Nymphomaniac: Vol. I (2013)
Nymphomaniac: Vol. II (2013)
von Lars von Trier
Da ist er also: Nach "Idioterne" (1998), Puzzy Power Manifesto und "Antichrist" (2009) kam [Achtung: Spoiler!] mit "Nymphomaniac" (2013) Lars von Triers ultimative Annäherung an den pornographischen Film in die Kinos - ein fünfeinhalbstündiges Mammut von Film, dessen marktschreierisch im Vorfeld angekündigten pornographischen Momente freilich eine untergeordnete (aber keinesfalls unwichtige) Rolle spielen und das aus kommerziellen Gründen sowohl in einen Zweiteiler gesplittet worden und zudem um anderthalb Stunden gekürzt als (ebenfalls zweiteilige) Produzentenfassung vertrieben worden ist. Zu solchen Marketing-Schachzügen gesellt sich noch das enorme Selbstbewusstsein von Triers, der seinen Film geradezu als Markstein des erotischen Films ausweist, vom Rang eines "Ai no korîda" (1975) oder von Pasolinis Trilogie des Lebens (1970-1974), auf welche von Trier verweist, wenn er seinen Seligman (Stellan Skarsgård) in einem Atemzug deren Vorlagen ("Alf layla wa-layla" (800-1800), "Il Decamerone" (um 1350), "The Canterbury Tales" (ab 1380/1478)) anführen lässt, um die Erzählung seiner Gesprächspartnerin Joe (Charlotte Gainsbourg) zu kommentieren, deren Lebensgeschichte den Großteil des Films füllt.
Trotz dieses ganzen Tamtams und der etwas eitlen Prahlerei ist "Nymphomaniac" allerdings tatsächlich ein sehr guter Film geworden; unter anderem deshalb, weil von Trier die Kluft zwischen Kunstwerk und Kritik an diesem auch in seinen Film hineinholt, indem er seine Binnenhandlung in einer Rahmenhandlung einer Kommentation und Interpretation unterzieht. "Nymphomaniac" - für seine pornographische Explizität beworben und dann natürlich doch in erster Linie an einer Untersuchung der Bedeutung der Erregung für die Freiheit und die Identität des Menschen interessiert -, deutet, kontextualisiert und kritisiert sich mehrfach selbst, widerspricht sich selbst, gibt sich selbst als Angriffsfläche preis und erscheint gerade über dieses Opfer mehr oder weniger unangreifbar: Alles wird relativiert, könnte je nach Perspektive so oder so sein - und ganz besonders gilt das für von Triers eigene Provokationen, die sich hier ausgesprochen deutlich niederschlagen und erstmals ausdrücklich klarstellen, dass sie ernst & unernst zugleich gemeint sind und dass ihr Verfasser sich gar nicht anmaßt zu entscheiden, wie richtig oder falsch sie sind... und insofern erscheint die fehlleitende Marketing-Arbeit, welcher der fertige Film dann so gar nicht entsprechen mag, nicht gänzlich unpassend.
In dieser sich vehement hinterfragenden Art ist "Nymphomaniac" - als Abschluss der (eher inoffiziellen) Trilogie der Depression des depressiven Filmemachers - vermutlich von Triers bisher radikalste Selbstentblößung (im besten Sinne); es ist ein Film, der von Triers Vorlieben, Arbeiten und Ansichten gleichermaßen vorführt und hinterfragt und sich einer eindeutigen Wertung dabei verweigert - und das bisherige Schaffen in ein neues Licht rückt: vielleicht waren (selbst zu Dogme 95-Zeiten) die früheren Filme von Triers gar nicht so dogmatisch, wie man vermuten durfte, vielleicht verstand sich seine - unter Misogynie-Verdacht stehende - feministische Inszenierung der Frauenfiguren von "Medea" (1988) bis "Antichrist" nicht als unumstößliche Wahrheit, sondern als Vorschlag, als Möglichkeit. Und so urteilte dann auch etwa Barbara Schweizerhof ganz richtig, dass "man [...] diesen Film interpretatorisch nicht zu fassen [kriegt]. Wo der Ernst aufhört und die Farce beginnt, wo es um weibliche Sexualität und wo um männliche Projektion geht, darüber gibt zumindest der erste Teil, egal ob in der kürzeren oder der Director‘s-Cut-Fassung, noch keine echte Auskunft."[1] Bliebe zu ergänzen, dass der "zweite Teil" daran nichts ändert und sich diese Uneindeutigkeit durchaus auch auf das Gesamtwerk anwenden ließe, wie Georg Seeßlen es in seinem Büchlein "Lars von Trier goes Porno" (2014) tut: "Hinter jedem entschlüsselten Statement lauert ein grinsender Regisseur [...]. Und hinter jeder dekonstruierten Pointe lauert der tiefe Ernst eines depressiven Philosophen. Hinter dem Pathos der Witz, hinter dem Mythos die Reflexion, hinter dem Heiligen die schiere Alberei. Und umgekehrt. [...] [E]in Lars-von-Trier-Film hält einfach nicht still. [...] Wenn man ihm mit dem einen Instrument nahekommt, entfernt er sich in Bezug auf die anderen."[2]
Von Triers Tarkowskij-Vorliebe - einst in "Befrielsesbilleder" (1982), "Forbrydelsens element" (1984), "Medea" und "Riget" (1994) wahrnehmbar und jüngst in "Antichrist" erneut ausgelebt - wird hier etwa nicht bloß ein weiteres Mal unter Beweis gestellt (Algen unter fließendem Wasser, Seitwärtsfahrten über feuchte Zimmerwände, die Vorliebe für Bachs Ich Ruf Zu Dir, Herr Jesu Christ), sondern ziemlich deutlich ausgestellt, wenn eines der späteren Kapitel den Titel The Mirror trägt - weiße Schrift auf schwarzem Grund, Großbuchstaben, ein bisschen wie beim US-Plakat des gleichnamigen Tarkowskij-Films: denn The Mirror - d. h. "Zerkalo" (1975) - war auf andere Art und Weise Tarkowskijs persönlichster Film und spiegelte das Leben der Hauptfigur (als Alter Ego Tarkowskijs) auf ähnlich vielschichtige Weise, wie von Trier nun das Leben seiner Hauptfigur (ebenfalls ein Alter Ego, aber nicht das einzige in "Nymphomaniac") spiegelt.[3] Der Spiegel, nach welchem Joe ihr siebtes Kapitel benennt, ist nicht nur der Spiegel in Seligmans karger Kammer, und auch nicht der kleine Handspiegel, in dem Joe zu Beginn der Binnengeschichte dieses Kapitels ihr verwundetes Geschlecht spiegelt: er ist in erster Linie die Selbsterkenntnis der nymphomanen Joe im Rahmen der Therapiegruppe (wenngleich diese Selbsterkenntnis nicht im Sinne der Therapeutin erfolgt); und es ist später im Film auch noch die Figur des enthaltsamen Pädophilen (Jean-Marc Barr), in der sich Joe - als ihre Sexualität unterdrückende Person - nochmals selbst erkennt.
Und natürlich ist "Nymphomaniac" insgesamt wie "Zerkalo" ein Spiegel, in dem von Trier nicht einfach bloß Erzählungen und Sinneseindrücke vermittelt, sondern diese Vermittlungen beim Namen nennt und auf der Metaebene einer Rahmenhandlung reflektiert: Das betrifft nicht nur die auf Tarkowskij verweisende Namensgebung des siebten Kapitels, welche zugleich eine wichtige Wurzel von von Triers ästhetischer Tradition nennt, sondern etwa den Skandal, den der Filmemacher mit seinem vermeintlichen Nazismus & Antisemitismus provozierte. Während man sich in Cannes nach der Pressekonferenz zu "Melancholia" (2011) angesichts der eher kabarettistischen "Okay, I'm a Nazi"-Äußerungen von Triers zutiefst empörte und ihn - kein bisschen diskussionsbereit, sondern ganz autoritär - zur persona non grata erklärte, erkannten zumindest etliche Tageszeitungen, dass weniger von Trier, sondern eher diejenigen, die er in Cannes auf die Palme gebracht hatte, sich lächerlich gemacht hatten. Wenn von Trier in seinen provozierenden Äußerungen - recht undurchdacht & spontan - gezeigt hatte, dass manche Äußerungen reflexhafte Abwehrreaktionen hervorrufen, welche eine Diskussion häufig gar nicht mehr zulassen, ist er dennoch daran gescheitert, dass sein Publikum auf diese zugegebenermaßen etwas wirr formulierten Äußerungen zwischen Ernst und Komik mit ebensolchen Abwehrreaktionen reagiert hat. Nun tritt von Trier in "Nymphomaniac" nochmals nach: von Triers eigene Verortung zwischen Juden und Nazis und seine Kritik an Israel tauchen nun (am Ende des ersten Kapitels The Compleat Angler) in der Gestalt Seligmans wieder auf, dessen Urgroßvater Jude war, der einen jüdischen Namen trägt und der dennoch unter Antisemitismus-Verdacht steht, weil er explizit eine antizionistische Position einnimmt.[4]
Das ist freilich bloß eine kleine Randnotiz in "Nymphomaniac", die aber bereits deutlich macht, dass es vor allem ein Film über Lars von Triers Œuvre ist. Breiteren Raum nimmt daher eine Frage ein, die mindestens seit Ende der 80er Jahre kontinuierlich durch von Triers filmisches Schaffen geistert: die Frage nach der Aufopferungsbereitschaft der Frau, die automatisch gut - weil weiblich - zu sein scheint. In einem lesenswerten Artikel von Hannah Pilarczyk über das Buch von Georg Seeßlen über den Film von Lars von Trier fasst Pilarczyk von Triers Frauenfiguren folgendermaßen zusammen: "Von den männlich dominierten Wissensystemen Religion und Vernunft den Status als Opfer (victim) zugewiesen, wenden die Frauen in 'Breaking the Waves' oder 'Dancer in the Dark', 'Melancholia' oder 'Antichrist' diesen Status sowohl gegen sich als auch gegen die Systeme und deuten ihre Handlungen eigenmächtig zu Opfern (sacrifes) um. Haben die Frauen mit dieser (Selbst-)Zerstörung etwas gewonnen? Nein, aber - und das ist nach Seeßlen die Pointe von Triers 'erregendem Nihilismus' - er gönnt es ihnen, wenn sie die Welt mit sich in den Abgrund reißen."[5] In "Nymphomaniac" ist die weibliche Hauptfigur - entgegen aller blöden Frauenwitze und reaktionäreren Vertreter(innen) der Neurobiologie - zumindest das perfekte Einparkgenie. Doch Joe - die übrigens über einen ausgesprochen männlichen Namen verfügt - ist anders als frühere von Trier-Figuren kein Engel: sie riskiert als Teenie das Glück eines älteren Mannes für eine Tüte Süßigkeiten - wobei allerdings bedacht werden sollte, dass dieser in jenem Moment recht schwanzgesteuerte Mann sein eigenes Glück ebenfalls für einen einzelnen Orgasmus riskiert -, sie macht Sexualpartner unglücklich, weil sie auf deren Bedürfnisse keinerlei Rücksicht mehr nimmt und bloß per Zufallsprinzip auf sie eingeht (oder auch nicht) und damit mindestens eine Familienkrise heraufbeschwört - an der ihr Partner und dessen Gattin (Uma Thurman) freilich ebenfalls eine Teilschuld tragen, wobei sie allerdings anderen Motivationen gefolgt sind -, sie wird kriminell und begeht beinahe einen Eifersuchtsmord, der nur durch einen Zufall verhindert wird. Joe hält sich zu Beginn des Films für böse und will mit ihrer Erzählung in acht Kapiteln beweisen, dass sie auch böse ist. Das ist - wie schon in "Antichrist", der das Zur-Täterin-Werden weiblicher Opfer (wie Björk in "Dancer in the Dark" (2000)) radikalisiert und den "Nymphomaniac" nicht nur über die Szene mit dem kleinen Sohn auf dem Balkon eindeutig zitiert - eine Art Umkehrung früherer Frauenfiguren von Triers: doch während "Antichrist" geradezu als abstrahierender Thesenfilm auftritt, der die früheren Filme auf überraschende Weise & relativ systematisch zuspitzt, um scheinbar eine feste Aussage zu treffen, nach welcher Frauen derartig Opfer der Männer sind, dass ihnen nur die Aufopferung oder die Auflehnung in Form von Täterschaft, welche direkt aus der Opferrolle resultiert, bleibt, ist "Nymphomaniac" ein Film, der zwei gegensätzliche Stimmen zum Thema gleichermaßen zu Wort kommen lässt. Die Nymphomanin hält sich für böse, ihr Zuhörer Seligman, der in die Rolle eines einfühlsamen Therapeuten schlüpft, widerspricht ihr stets und sieht die eigentliche Schuld sogar in patriarchalischen Verhältnissen. Wenn dann am Ende der vermeintlich asexuelle Kopfmensch & Bücherwurm Seligman über die Nymphomanin herfällt, um einmal mit einem anderen Menschen intim zu werden, dann ist diese unglaubwürdige Wendung zwar ein läppischer und arg vorhersehbarer Schlussgag, der aber eben auch typische Figurenkonstellationen von Triers selbstironisch parodiert: Von Triers aufopferungsvollen, leidenden Frauen waren immer schon teilweise läppisch - weil kitschig & verklärend & klischiert - und "Nymphomaniac" macht als erster Film von Triers darauf aufmerksam und lässt ausdrücklich offen, wie richtig oder falsch diese filmischen Entwürfe weiblicher Reinheit & Unschuld sind.[6]
In seiner Funktion als Provokateur greift von Trier in "Nymphomaniac" auch die eigene, filmische Lust an der Provokation anhand der Themen Pädophilie und Abtreibung auf, um ihnen mit zwei widersprüchlichen Haltungen zu begegnen, mit einem Hin- & Hergerissensein und nicht mit einer provozierenden, selbstbewussten These. Im Fall der Pädophilie lässt er den intellektuellen Seligman die nicht weiter begründete (aber populäre) Haltung vertreten, man habe ihnen kein Mitleid entgegenzubringen, während die nymphomane Joe hingegen für Mitleid plädiert (und argumentiert). Interessanter ist jedoch die Behandlung der Abtreibung, weil sich hier wieder weit deutlicher die Selbstreflexivität von Triers offenbart: er zeigt erst in allen Details & in Großaufnahme die Abtreibung eines Fötus mittels Drahtkleiderbügel, ehe er dann Seligman Joes Erzählung und Haltung kritisieren lässt: man dürfe die bisweilen wichtigen Abtreibungen nicht über detaillierte Schilderungen des Abtreibungsvorgangs mit einer extrem abschreckenden Wirkung ausstatten. Joe widerspricht: Tabus wären ausgesprochen schädlich für Menschen. Natürlich steht im Widerstreit beider Meinungen nicht bloß der Umgang mit Abtreibungen zur Debatte, sondern gleich Lars von Triers Schock-Ästhetik, die sich von provozierenden Sadiconazista-Anleihen ("Orchidégartneren" (1977)) über Hardcore-Aufnahmen ("Idioterne") bis hin zu drastischen Gewaltbildern ("Antichrist" - dessen blutige Genitalverstümmelung an & durch Gainsbourg bei Gainsbourgs blutiger Abtreibung in "Nymphomaniac" ganz besonders in Erinnerung geraten dürfte) zieht.
"Nymphomaniac", der sich als Joes Erzählung wie ihr erstes Mal in drei + fünf erniedrigende Stöße teilt - fünf im ersten Teil, drei im zweiten Teil -, ist aber nicht einfach nur ein Film der Metaebenen & Reflexionen, über die von Trier sein bisheriges Œuvre behandelt und ihm nachträglich einiges von seiner vermeintlichen Eindeutigkeit, seiner vermeintlichen Ernsthaftigkeit und seines vermeintlichen Wahrheitsanspruches nimmt; es ist kein Film, der sich selbst (und alles vorherige) spiegelt und größtenteils relativiert, um nur noch alternative Möglichkeiten des Denkens über mancherlei Themen anzubieten, zwischen denen sich ein Publikum dann positionieren muss - wenn es nicht sogar bereit ist, ebenfalls davon auszugehen, dass sich gegensätzliche Urteile über manche Themen nicht automatisch in ein wahres und ein falsches Urteil aufteilen lassen -, sondern es ist durchaus ein Film, der einem etwa behilflich sein kann, die irrationalen Aspekte des Menschen besser nachzuvollziehen. Das betrifft etwa die Angst vor Schwangerschaften, die derartig extreme Ausmaße annimmt, dass man die Pille schließlich gar nicht mehr verwendet (um eine vollständige Ausblendung des Themas der Schwangerschaft zu garantieren), das betrifft natürlich die sexuelle Begierde, die einen (und auch nahezu alle sexuell aktiven Figuren des Films) Dinge tun lässt, die man später bereut und von denen man schon im Vorfeld weiß, dass man sie später bereuen wird, das betrifft ursprünglich religiöse Wertvorstellungen, die man als Atheist übernimmt, das betrifft sentimentale Verbundenheit und die alles verzerrende (oder zumindest alles in neues Licht rückende) Liebe...
Und "Nymphomaniac" erzählt letztlich ein reichhaltig ausgeschmücktes, hochdramatisches Selbstfindungsdrama: Wolfgang Höbel sprach im Spiegel - nachdem er scheinbar bloß die erste (und kürzere) Hälfte des in zwei Teile gespaltenen Films in der nicht von Triers Idealen entsprechenden kürzeren Version gesehen hatte - etwas despektierlich davon, dass "[i]n dieser Story, die angeblich von Geilheit und Glücksstreben berichtet, die Dramaturgie des Leierkastens [herrscht]"[7] und bemängelte das Fehlen einer "schlüssig erzählte[n] Geschichte"[8] in diesem "Marionettentheater"[9]. Doch dieser genüssliche Verriss mit eingestreuten Sticheleien stürzt sich auf die möglichen Schwächen eines Films, ohne auf seine tatsächlichen Stärken einzugehen. Natürlich ist die Lebensgeschichte Joes, die von einem Mann entjungfert wird, den sie später lieben und beinahe ehelichen wird, um ihn (und das gemeinsame Kind) durch ihre Nymphomanie zu verlieren, ehe sie nach langer Selbstfindungsphase mit ihrer Sucht zurechtkommt und eine andere Frau zu lieben lernt, die sie letztlich jedoch an ihren Ex-Partner unrettbar verliert, in ihren Grundzügen nicht sonderlich originell - tatsächlich hätte sie in anderer Form auch einen Groschenroman abgeben können! - und wimmelt noch dazu von zahlreichen Stereotypen: der liebevolle Vater (glänzend: Christian Slater), die gefühlskalte Mutter (Connie Nielsen), der jungfräuliche, gealterte Intellektuelle (Stellan Skarsgård), der neureiche, selbstverliebte Schnösel (Shia LaBeouf), die hysterische Ehefrau (Uma Thurman), die eifersüchtige, missgünstige Kollegin (Felicity Gilbert)... Von Trier ist aber auch gar nicht bemüht, das zu kaschieren; stattdessen macht er wie schon in "Antichrist" über den Verzicht der Namen (bei zahlreichen Nebenfiguren, die hier bloß mit Buchstaben gekennzeichnet werden) darauf aufmerksam, dass man es mit jenen Schablonen zu tun hat, die von Trier und sein Film gerade benötigen, um auf altbewährte Weise zu laufen. Wie etwa Ozons "Angel" (2007) ist "Nymphomaniac" ein Film, der an der Oberfläche ein hübsch gestaltetes Beziehungsdrama präsentiert, der jedoch auf einer anderen Ebene seine Klischees, seine Oberflächlichkeiten, seine Auslegungsmöglichkeiten intelligent durchspielt... "Nymphomaniac" wartet nicht nur mit Klischees auf, die bei einem großen Teil des Publikums auch hervorragend ihre Wirkung erzielt haben, sondern er reichert es mit erhellenden Einsichten und glücklicherweise auch mit Unsicherheit erzeugenden Relativierungsbemühungen an und lässt sich selbst (und das Gesamtwerk von Triers) ungreifbar geraten. Ein Film, der von E. A. Poe bis Ian Fleming, von Proust bis Bataille, von Bach bis Shostakovich, von Camille Saint-Saëns bis Rammstein, von Godard bis Haneke, von Tarkowskij bis von Trier reicht, über vieles einiges zu sagen hat und dennoch ganz ausdrücklich nicht der Weisheit letzter Schluss sein will; ein Film, der zudem handwerkliche, inszenatorische und darstellerische Qualitäten zuhauf enthält. Und ein Film, der in seinem Pendeln zwischen Erzählung und Deutung dieser Erzählung ganz konsequent der Uneindeutigkeit & Ungreifbarkeit folgt, die seine eigenen Deutungen (durch Seligman und Joe) selbst bereits schon ausmacht. Ob man der Erzählung selbst Glauben schenken mag oder nicht, kann jede(r) wie Seligman in The Little Organ School selbst entscheiden; großes formales Geschick, gehaltvolle Aspekte und ein hohes Ausmaß an Reflexion sind allerdings nicht zu übersehen. "Nymphomaniac" ist mit Sicherheit einer der wichtigsten Marksteine in von Triers Schaffen, vielleicht sogar ein neuer Wendepunkt.
8,5/10
1.) Barbara Schweizerhof: Kritik zu Nymphomaniac. http://www.epd-film.de/filmkritiken/nymphomaniac (15.05.2015).
2.) Georg Seeßlen: Lars von Trier goes Porno. (Nicht nur) über NYMPHOMANIAC. Bertz+Fischer 2014; S. 7.
3.) Das Kapitel vor The Mirror - The Eastern and the Western Church (The Silent Duck) - kommt übrigens zu seinem Titel, als Joe das Gespräch auf eine Ikone lenkt, die in Seligmans Zimmer hängt: es ist vermutlich ein Rubljow, erklärt Seligman. Und dessen Film-Biographie "Andrei Rublyov" (1966) zählt zu den zwei, drei besten Klassikern Tarkowskijs. (Joes Erzählung beginnt in diesem Kapitel zudem mit einer Levitationsszene: drei der sieben Spielfilme Tarkowskijs weisen solche Szenen des Schwebens auf, zwei weitere ähnliche Szenen des Fliegens.) Über die Wörtchen Rubljow und Spiegel ist Tarkowskijs Präsenz bei von Trier hier offensichtlicher als in allen frühren von Triers.
4.) Später wird von Trier seine Joe dafür plädieren lassen, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, als Seligman ihre Verwendung des Wortes Neger kritisiert: jede Zensur eines Begriffs - man könnte das auf Äußerungen insgesamt ausweiten! - sei ein Angriff auf die Demokratie. Auch darin mag man eine Attacke auf den Cannes-Skandal von 2011 sehen, als man von Trier nach seinen Äußerungen zur persona non grata erklärte, während man zeitgleich die iranischen Filmemacher Rasulof und Panahi würdigte, deren Meinungsäußerung im Iran durch Haftstrafen und/oder Arbeitsverbote erheblich eingeschränkt wird und deren Filme nach Cannes geschmuggelt werden mussten.
5.) Hannah Pilarczyk: Buch zu "Nymphomaniac": Georg Seeßlen füllt einige Löcher. http://www.spiegel.de/kultur/kino/georg-seesslen-ueber-lars-von-triers-nymphomaniac-a-962235.html (15.05.2015)
6.) Der Vorwurf der unglaubwürdigen (und vorhersehbaren) Wendung wird vom Film schon im Vorfeld entkräftet: Die zufälligen Zusammentreffen von Joe und Jerome werden von Seligman als unglaubwürdig beschrieben; Joe besteht hingegen darauf, dass die Geschichte nunmal so ablaufe. Und wovon habe Seligman mehr: die Geschichte zu glauben, die Geschichte nicht zu glauben? Inwieweit man sich von diesem Gedanken überzeugen lassen will, sei mal dahingestellt; dass diese reflektierenden Metaebenen gerne auch mal ins Leere führen, wird einem spätestens klar gemacht, wenn Joe Seligmans willkürlichen Bergsteigerknoten-Kommentar ihrer Erzählung als bisher schwächsten Exkurs bezeichnet. Immer dann wenn die filmische Erzählung explizit als Erzählung und ihre Deutung explizit als Deutung behandelt wird (wie im Fall des Sprechens beider Figuren über die Erzählung & Deutung der blasphemischen Visionen der jungen Joe während ihrer Levitation), werden seine Konstruiertheit und seine (möglichen) Absichten besonders deutlich.
7.) Wolfgang Höbel: Lars von Triers "Nymphomaniac 1": Sex und Sinnsprüche. http://www.spiegel.de/kultur/kino/filmkritik-lars-von-triers-nymphomaniac-1-a-954588.html (15.05.2015)
8.) Ebd.
9.) Ebd.