Ein wenig muss man an Ingmar Bergman und „Fanny und Alexander“ denken, die in der TV-Fassung fünfeinhalb Stunden lange Abrechnung mit dem eigenen Gesamtwerk, das sich bei dem schwedischen Regisseur stets um existenzialistische Themen bewegte. Hier wie dort wird Vergangenes in schillernde Rahmen gesetzt. Fragmente wiederholen sich wie ein Déjà-Vu, indem bereits gezeigte Szenen nochmals ins Bild gelegt werden wie Gedankenfetzen, die unwillkürlich immer wiederkehren und ein seltsam desorientierendes Gefühl zwischen Unbehagen, Komik und Distanz bereiten.
Gerade durch jene Momente in der Leidensgeschichte Joes, die schier Unglaubliches zu Tage fördern, wird der Surrealismus wiedererweckt, der einen Bergman über viele Filme begleitete. Allerdings fehlt „Nymphomaniac“ auch nach seiner Vollendung mit ebenfalls fünfeinhalb Stunden die immanente Dramaturgie. Durch Joes Leben zu streichen ist nicht wie eine Achterbahnfahrt, sondern eher so, wie in einer Galerie an einer Reihe von zusammenhängenden Bildern entlang zu gehen, ohne den Künstler persönlich zu kennen. Beim Anblick eines Bildes sieht man plötzlich vorher gesichtete Bilder vor dem geistigen Auge aufblitzen und versteht zwar die Verknüpfungen, um idealerweise ihre Faszination zu begreifen; tauchte man jedoch in die bei „Fanny und Alexander“ geschilderte Kindheit geradewegs ein, bleibt Joe in all ihren Lebensphasen ein Enigma.
Charlotte Gainsbourg übernimmt nun neben der Rahmenhandlung auch die Rolle der Joe in den späteren Lebensabschnitten der Figur. Einen Unterschied für die Stimmung macht das kaum; die ältere und die jüngere Joe strahlen die gleiche Unnahbarkeit aus, der es auch geschuldet ist, dass die Sexszenen kaum Erotik ausstrahlen, sondern in ihrer Explizitheit vielmehr unterkühlt, roh, klinisch und fleischig erscheinen. Eine hochgradig detailliert dargestellte Abtreibung treibt dies auf die Spitze. So wie überhaupt die Mittel im Alter radikaler werden, mit der Joe gegen das Nachlassen von Gefühlen ankämpft. „Vol. 2“ verabschiedet sich langsam von der spielerischen Metaphorik, mit der Seligman die frühen Eskapaden seines Gastes manchmal regelrecht euphorisch einordnete. Er wird im Sujet ernster, sowohl im narrativen als auch im Meta-Rahmen. Und doch folgt er in der Dialektik zwischen Gegenwart und Vergangenheit weiterhin keiner steigenden Dramaturgie, wenigstens nicht, bis der Film mit einer trockenen Pointe endet, die bei genauer Betrachtung einfach so kommen musste. Auch dass schon bald Skarsgårds Figur Gegenstand des Films werden würde, war vorauszusehen, ebenso wie die zwischenzeitliche Pointe bezüglich seines Lebensstils, da das Szenenbild ihn bereits längst entlarvt hatte, sobald er den Gast in Vol.1 in seine Räumlichkeiten bat. Der Tonfall bleibt weiterhin fast schon herzzerreißend nüchtern, indes Seligman langsam die Argumente ausgehen, die Taten zu rechtfertigen. Er bleibt seiner Position dennoch treu und schiebt etwaige Geschmacklosigkeiten der Story auf den Erzählstil; Joe sehe sich gerne in einem schlechten Licht, beteuert er bitterlich, und damit greift Lars von Trier die persönliche Färbung oraler Medialität nicht zum ersten Mal auf. Er räumt der Art, wie etwas erzählt wird, Vorrang ein gegenüber den reinen Sachverhalten.
Dass die Geschehnisse an Härte gewinnen, heißt nicht, dass der Tonfall nicht doch mal zwischenzeitlich süffisant erscheinen kann. Einem Kapitel verleiht Joe den Untertitel „The Silent Duck“, ein Umstand, der im Laufe der Unterhaltung wieder vergessen wird, bis die Erzählerin plötzlich mit „Ach ja, da war doch was“-Tonfall darauf zurückkommt und eine kurze, prägnante Schilderung nachliefert, die den Zuhörer zu einer Reaktion zwischen Belustigung und Beschämtheit und damit zu einem nahe liegenden Witz führt. In einer Ménage à Trois mit zwei Afrikanern werden die Erwartungen Joes an gemischtrassigen Sex mit trockenem Humor gebrochen, der allerdings wie fast alle Geschehnisse auch tragisch interpretiert werden kann; immerhin lernt Joe hier, dass auch ihre romantischen Vorstellungen kommunikationsloser Sexualität der Spirale ihrer allmählichen Selbstzerstörung zum Opfer fallen. Später zeigt der Regisseur das Bild eines brennenden Autos, in vollem Bewusstsein, die Ikonik eines Hollywood-Films zu verwenden (bevorzugte Genres: Action, Drama oder Romantik). Anstatt den Charakter zu öffnen, um sein Innenleben zu offenbaren, verfremdet von Trier ihn immer wieder, was Seligman, der der Erzählung anfangs als philosophisch betrachtet leeres Gefäß beiwohnte, langsam zu füllen und ihn damit zu brechen scheint.
„Nymphomaniac“ ist rückblickend kein Zweiteiler, sondern, wenn man so will, eine Miniserie in acht ungleichen Kapiteln, deren Dramaturgie einer eher flachen Linie folgt. Mit der gleichen Tristesse belegt, die auch „Antichrist“ und „Melancholia“ schon prägte, ist es nicht immer einfach, von Triers Gedankengänge nachempfinden zu können. In vielerlei Hinsicht unterliegen die Motive des Films privaten Vorgängen, die sich dem Künstler selbst eher erschließen als seinem Publikum – was nicht bedeutet, dass diese fünfeinhalb Stunden nicht zu den geistig anregendesten Momenten des Produktionsjahrs 2013 gehören würden. Rein stilistisch liegt hier ein Meisterwerk vor, dessen Stärken vor allem im Fehlen von Beschränktheiten liegen, was sowohl die ästhetische Gestaltung betrifft – Bildformatwechsel, Farbfilter und Einstellungsgrößen inbegriffen – als auch die inhaltliche Orientierung, bei der weder religiöse, mathematische, naturwissenschaftliche oder soziale Dogmen eingehalten werden. Von Triers größte Leistung liegt daher vielleicht darin, dass er einer Lebensgeschichte, die von der Erzählerin selbst als Hölle der Monotonie empfunden wird, so viele Facetten abgewinnen kann. Indem „Vol.2“ die Ereignisse zum Ende hin zuspitzt und die Düsternis über den leichten Ton siegen lässt, arbeitet er also möglicherweise gegen die größten Stärken seines gehaltvollen Mammutwerks; andererseits ist „Nymphomaniac“ damit ein angemessener Schlusspunkt seiner Trilogie der Depression.