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„Was hab‘ ich damit zu tun?“

Herbert Lichtenfeld (Drehbuch) und Wolfgang Petersen (Regie) zum Dritten: Der „Tatort: Jagdrevier“, Kriminalhauptkommissar Finkes (Klaus Schwarzkopf) dritter Einsatz, wurde am 13. Mai 1973 erstausgestrahlt und verschlug den Kieler Beamten ins fiktionale schleswig-holstein’sche Dorf Niederau (nicht zu verwechseln mit der sächsischen Gemeinde oder diversen Ortsteilen in Bayern).

„Wir sind hier eigentlich alle irgendwie miteinander verwandt…“

Der Häftling Dieter „Ditsche“ Brodschella (Jürgen Prochnow, „Das Boot“) büchst beim Torfstechen aus, um Rache an Werner Kresch (Walter Buschhoff, „Blutiger Freitag“) zu nehmen – einem reichen Immobilienbesitzer, dem fast das gesamte Dorf Niederau gehört. Ditsches Freundin wurde nach einer Silvester-Party Kreschs tot in dessen Gartenteich gefunden und Ditsche ist davon überzeugt, dass Kresch für ihren Tod verantwortlich ist. Deshalb hat er bereits einen Mordversuch auf dem Kerbholz und seine Haftstrafe zu verbüßen. Kommissar Finke soll Ditsche finden und Kresch Unversehrtheit gewährleisten, doch Kresch verhält sich ebenso wenig kooperativ wieder der kurz vor seiner Pensionierung stehende Dorfpolizist Heise (Uwe Dallmeier, „Der Lord von Barmbeck“), der zugleich Ditsches Schwager ist…

„Es ging heiß her, viele hatten wenig an. Es war ja auch kein Priesterseminar!“

Torfstecherei als Knastarbeit – eine willkommene Gelegenheit, einfach abzuhauen und sich im Heimatdorf, wo man alles und jeden kennt, zu verstecken. Auf seine Freunde Molli (Volkert Matzen, „Hirnhexen“), den taubstummen Szenka (Klaus Helm) und Pitti (Annette Kluge, „Tatort: Schöne Belinda“), die Schwester der Toten, kann Ditsche zählen und wie man sich auf einer Kuhweide eine große Portion nahrhafte Milch organisiert, weiß er auch. Finke verschlägt es zunächst allein ins wenig einladende Dorf, in dem man nicht einmal mehr übernachten kann – die Wirtin des einzigen Gasthauses ist Ditsches Schwester und macht ob der Ankunft des Kommissars nicht gerade Luftsprünge vor Freude. Assistent Jessner (Wolf Roth) ist noch auf einem Polizeischullehrgang, er wird später nachkommen. Manch Dialog erfolgt auf Platt und wird nicht untertitelt, was den spröden Charme weiter Teile des Ensembles und das Lokalkolorit zusätzlich betont.

„Los, nach Duisburg!“

Die Atmosphäre dieses „Tatorts“ jenseits der Moderne, rau, trist und abweisend, die Inszenierung mit ihren weiten Landschaftspanoramen und in Großaufnahmen eingefangenen Gesichtern sowie die Musik machen aus „Jagdrevier“ einen Western, angesiedelt in einem Dorf im Umbruch: Von Idylle kaum eine Spur, eine Chemiefabrik droht als Schreckensvision und man steht mehr oder weniger unter der Knute des vermögendsten Bewohners. Wie dieser tickt, erfährt Finke, der Berti Vogts unter den Kommissaren, vom Dorfarzt. Denn Finke wird hier körperlich übel mitgespielt, wenngleich sich Ditsche als fairer Gegner entpuppt, der keinen Zweifel daran lässt, dass er keinen Hass auf Finke, sondern auf Kresch hegt. Gegen diesen kommen nun auch Vergewaltigungsvorwürfe zur Sprache, die sich bisher nie jemand auszusprechen traute: An Heike (Regine Lamster, „Die erste Polka“), der minderjährigen Tochter der, seit ihr Mann sie sitzen ließ, alleinerziehenden Frau Borcherts (Karen Hüthmann, „Zufall, alles Zufall oder Die vertagte Hochzeitsnacht“), soll sich Widerling Kresch vergriffen haben. Doch ist sie auf Kresch angewiesen: Sie arbeitet für ihn und hofft inständig, dass er ihre Miete nicht erhöht. Als eine ältere Frau ihre Miete nicht mehr zahlen konnte, hatte sie sich erhängt. Das Thema Vergewaltigung und mit ihr einhergehende Täter-Opfer-Umkehr, Ignoranz und Machtlosigkeit wird nicht unbedingt sensibel, aber dafür mit klarer Haltung aufgegriffen.

„Herr Kommissar, das ganze Dorf weiß, wo er steckt – nur Sie nicht!“

Bald muss sich Finke Kritik stellen: seines Assistenten, dass er Ditsche laufen lässt, wenn er ihn eigentlich so gut wie eingefangen hat – und seines Kieler Vorgesetzten Oberrat Mertens (Werner Nippen), den Kresch Finke zurückzupfeifen anwies, seit er bemerkt hat, dass sich die Ermittlungen plötzlich gegen ihn wenden. Doch darum schert sich Finke wenig, die Männer fordern sich gegenseitig heraus und so läuft alles auf einen großen, kinotauglichen Showdown vor einer beeindruckenden Feuersbrunst hinaus. Ein offeneres Ende wäre mir, ähnlich wie bereits im vorausgegangenen „Tatort: Strandgut“, lieber gewesen: Man hätte Ditsche untertauchen und es dabei belassen sollen. Doch da hätten möglicherweise die ARD-Verantwortlichen nicht mitgespielt, die schließlich schon schlucken mussten, dass ein Kommissar nicht nur Sympathien für seinen eigentlichen Gejagten entwickelt, sondern dessen absichtlich nicht habhaft wird und vielmehr den verkörperten Kapitalismus aus dem Dorf zu jagen hilft.

Die auffallend gute Kameraarbeit mit ihren Point-of-View-Einstellungen und anderen filmdienlichen Hinguckern hat neben den darstellerischen Leistungen und der schönen Charakterrolle des jungen Prochnows entscheidenden Anteil daran, dass Petersen mit dem norddeutschen Western „Jagdrevier“ fast schon Kino-Look in die Wohnzimmer brachte. Einen urbanen Kontrast bildet der damals obligatorische Gastauftritt eines anderen Kommissars, in diesem Falle Kressins. Ihn gibt es nur im Gasthaus zu sehen, wo er in „Kressin und die Frau des Malers“ über die Glotze flimmert…

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