Review

Die aus dem Jahre 1995 stammende britisch-französische Co-Produktion „Innocent Lies“ vermittelt aufgrund ihrer Handlung, Charaktere und Schauplätze unverkennbar das Gefühl einer klassischen Agatha Christie Kriminalgeschichte – und tatsächlich basiert das Drehbuch von Kerry Crabbe und Patrick DeWolf lose auf der Novelle „Towards Zero“ (1944) jener erfolgreichen Schriftstellerin. Die Tatsache, dass sie in den Credits keinerlei Nennung findet, lag am freien Umgang der Skriptschreiber mit dem Ursprungsmaterial, in welchem beispielsweise der Aspekt des Inzests nicht vorkam – nach dem Vorabsichten verfügte Christies Tochter Rosalind Hicks daher, die Namen der Figuren zu ändern sowie Verweise auf ihre Mutter und deren Roman in diesem Zusammenhang nicht zu verwenden. Geblieben ist der Geist der Vorlage trotzdem, was von der altmodischen Inszenierungsweise zusätzlich verstärkt wird.

Im September 1938 befindet sich Europa gerade in einer äußerst angespannten Lage, denn sowohl die französische als auch britische Regierung scheint gewillt zu sein, eher Stärke zu zeigen und somit wohlmöglich einen Krieg zu riskieren, als tatenlos zuzusehen, wie Hitler sich das Sudentenland vollkommen aneignet sowie die Rest-Tschechei unterwirft. Vor diesem Hintergrund reist der Inspektor Alan Cross (Adrian Dunbar) zusammen mit seiner kleinen Tochter Angela (Florence Hoath) von England aus an die französische Atlantikküste, um an der Beerdigung seines Freundes teilzunehmen, welcher dort unter mysteriösen Umständen Selbstmord begangen hat. Seine privaten Nachforschungen, die von den örtlichen Behörden inoffiziell unterstützt werden, zum Beispiel indem man ihm die junge Dolmetscherin Solange (Sophie Aubry) zur Seite stellt, führen ihn schnell zu der aristokratischen britischen Familie Graves, welche in einer modernen Villa direkt an der Steilküste residiert.
Bei einem ersten Treffen mit Lady Helena Graves (Joanna Lumley), einer einflussreichen Persönlichkeit und gleichzeitig Nazi-Sympathisantin, lernt er deren bildschöne, aber zurückhaltende Tochter Celia kennen, die in wenigen Tagen ihren Verlobten (Alexis Denisof) ehelichen wird. Gerade als Alan im Begriff zu gehen ist, trifft jedoch unerwartet Helenas Sohn Jeremy (Stephen Dorff) zusammen mit seiner Frau Maud (Marianne Denicourt) zu einem Kurzbesuch aus Oxford ein, worauf ihm Celia zuflüstert, er möge bitte noch nicht abreisen. Mit der Zeit stellt sich heraus, dass die beiden Geschwister ein dunkles Familiengeheimnis teilen, das in jene Nacht zurückgeht, als Jeremy im Kindesalter seinen Zwillingsbruder beim Spiel mit Pfeil und Bogen aus Versehen tötete.
Die Stimmung ist allgemein gereizt, denn während die Gefühle zwischen Bruder und Schwester nie eindeutig abschätzbar sind, ist Helena von der Tatsache verärgert, dass Maud Jüdin ist, was bei ihren faschistischen „Freunden“ natürlich nicht gern gesehen wird. Zudem entwickeln Alan und Celia anscheinend Gefühle füreinander – sehr zum Missfallen aller, die davon etwas erahnen. Wo liegt der Schlüssel zum offenkundlichen Selbstmord – oder existiert letztendlich gar keiner? Gibt es wohlmöglich eine Verbindung zu dem Unfalltod von Celias vorherigen Verlobten, der einige Jahre zuvor auf gerade Strecke von der Straße abkam? Warum wirkt sie heute noch verängstigt und verstört, wenn es um bestimmte Dinge aus ihrer Vergangenheit geht – und was genau hat es mit der Beziehung zu ihrem Bruder auf sich, welche über „normale Geschwisterliebe“ hinauszugehen scheint? Erst als einer der in diesen Verstrickungen involvierten Personen schließlich tot im Haus aufgefunden wird, lassen sich die Zusammenhänge langsam in ihrer Gesamtheit erschließen…

Die Handlung von „Innocent Lies“ entfaltet sich vor der Kulisse des in Europa ausbrechenden zweiten Weltkriegs mitsamt aller Entscheidungen, Konsequenzen und Befürchtungen, was der bedrückenden Stimmung eine zusätzliche Note verleiht – obwohl man die Story auch unabhängig dieses geschichtlichen Settings hätte erzählen können, denn die zentrale Krimihandlung ist universell, während nur die Sub-Plots Anknüpfungen zu den Auswirkungen des Faschismus besitzen. Vor allem Helenas Gesinnung mitsamt ihres Verhaltens gegenüber Maud wäre da zu nennen, sowie dass letztere mit Jeremys Unterstützung versucht, ihre Eltern vor den Nazis in Sicherheit zu bringen. Zwar werden diese Elemente bestenfalls oberflächlich abgehandelt, doch ich sehe sie trotzdem als willkommene Ergänzung zu den Verstrickungen der Familie, denn sie verbildlichen die Gesamtlage der Menschen jener Zeit deutlicher und liefern einigen Figuren (sowohl direkt als auch indirekt) mehr Substanz.

Stephen Dorff und Gabrielle Anwar sind Vertreter einer gemeinsamen Schauspiel-Generation (Geboren 1973 bzw 1970), deren Karrieren angesichts des vorhandenen Potentials nie wirklich durchzustarten vermochten. Während Stephen nach seinem Durchbruch mit „Backbeat“ (`94) zwar in einigen Hits (zB „Blade“) mitwirkte, wählte er immer wieder auch Indie-Produktionen a la „Entropy“ oder „the Last Minute“ aus – seine letzten Kinofilme floppten hingegen allesamt eindrucksvoll (“FeardotCom“/“Cold Creek Manor“/“Alone in the Dark“). „3 Strikes: You´re out!“ heißt es gewöhnlich in Hollywood, aber mal abwarten. Gabrielle standen 1992 alle Türen offen, nachdem sie maßgeblich an einer der einprägsamsten Szenen von „Scent of a Women“ beteiligt war, nämlich als sie mit Pacino einen Tango tanzte. 1993 wurde sie gar vom „People“ Magazin unter die 50 schönsten Frauen der Welt gewählt. Es folgten Ferraras „Body Snatchers“, Sonnenfelds „for Love or Money“ sowie Disneys „the 3 Musketeers“ – daraufhin beschloss sie jedoch, sich nicht derart dem Kommerz hinzugeben, worauf sie etliche „High Profile“-Rollen (zB in „Mission: Impossible“) ablehnte und sich auf kleinere Projekte konzentrierte. Leider verzeiht das System solche Attitüden nicht so einfach, weshalb sie seitdem fast ausschließlich in mäßigen bis schwachen B-Filmen (a la „the Guilty oder „Turbulence 3“) zu sehen ist.

In diesem Fall macht vor allem Anwar ihre Sache wirklich gut. Ihre Rolle vereint Ansätze einer manipulierenden Femme Fatale mit Facetten einer gestörten Persönlichkeit aufgrund des in der Kindheit erlittenen Traumas sowie der Verarbeitung ihrer inzestuösen Beziehung zu Jeremy. Darüber hinaus ist sie interessant, vielschichtig sowie mit der ausgeprägtesten Tiefe aller Charaktere konzipiert worden. Dorffs Leistung würde ich als „solide“ einschätzen – zwar geht er die Figur auf seine typische (impulsive/rebellische) Art an, jedoch leicht gezügelt angesichts der betreffenden Gesellschaftsschicht. Nur seine modische Frisur empfand ich als einen Tick zu modern, da sie auch in der heutigen Zeit noch immer „angesagt“ wäre. Joanna Lumley, welche noch in etlichen weiteren Agatha Christie Verfilmungen mitgewirkt hat („Marple: The Body in the Library“), vermag zu überzeugen, während Adrian Dunbar („Triggermen“) in der eigentlichen Hauptrolle erschreckend blass verbleibt, was ein zentrales Problem des Films darstellt, denn die Persönlichkeit des Inspektors ist nicht unbedingt aufregend oder prägnant geraten, weshalb man seine Nachforschungen eher halbherzig mitverfolgt und sich das Interesse unweigerlich auf das Geschwisterpaar richtet. Sophie Aubry („Vive le cinéma!“) konnte bei mir als Solange ebenfalls einen positiven Eindruck hinterlassen, doch auch ihre Rolle erscheint nicht sonderlich ausgereizt bzw nur aufs Nötigste begrenzt. In Rückblenden ist zudem die junge Keira Knightley („Domino“) in einer ihrer ersten Rollen (als junge Celia) zu sehen.

Auf der „Haben“-Seite kann das Werk von Regisser Patrick DeWolf („Monsieur Hire“) neben der interessanten Ausgangslage und dem stimmungsvollen, Atmosphäre fördernden Score von Alexandre Desplat vor allem Patrick Blossiers Kameraarbeit verbuchen, welche, dem Tempo angepasst ruhig, die Schönheit der Küstenlandschaft sowie das in Details erfreulich präzise zusammengestellte Set- und Produktionsdesign passend (also eher etwas unterkühlt) eingefangen hat. Zusätzlich zur vielschichtigen Story kann der Film also vor allem optisch (bzw auf technischer Ebene) überzeugen. Dem gegenüber stehen jedoch einige gewichtige „Soll“-Faktoren, die sich einfach nicht übertünchen lassen: Neben dem schwachen Ermittler/Hauptdarsteller ist es vor allem der ungeschickte Umgang mit den Geheimnissen, welcher verärgert. Der die Untersuchung auslösende Selbstmord wird im Verlauf zur Nebensache und von den Geschehnissen im Hause Graves schließlich vollkommen überlagert, zu denen diverse erotische Verstrickungen der Protagonisten zählen (ironischerweise wird die Wahrheit in diesem Bereich während eines Geschlechtsakts bekannt gegeben). Leider erfährt der Zuschauer (nach diversen anspielenden Fragmenten von Rückblenden, die sich (imo) etwas zu oft wiederholen, bevor sie schließlich erweitert werden und ein klares Bild ergeben) bereits am Anfang des dritten Akts die Hintergründe, was wiederum einen gewissen Grad der Spannung raubt, worauf es nur noch darum geht, wie Alan reagiert und das Puzzle letztendlich zusammensetzt (eingefleischte Krimi-Fans können sich die Auflösung zudem schon früher denken).

Ein weiterer entscheidender Faktor für Ge- oder Missfallen ist die Tatsache, dass es sich hierbei um eine im klassischen Sinne „britische“ Produktion handelt – eine traditionelle Detektivgeschichte, leicht steril (vor allem ruhig) inszeniert, in höheren Gesellschaftsschichten angesiedelt sowie mit vielen Dialogpassagen und nahezu keiner Action. Darüber hinaus ist der vorhandene Sex recht züchtig ins Bild gerückt worden – das Endresultat ist zwar erotisch, nicht aber unbedingt direkt als Erotik-Film bzw –Thriller einzustufen. Fürs Mainstream-Publikum ist das Tempo wahrscheinlich zu langsam, die Umsetzung zu unspektakulär – für Freunde reiner „Anspruchs-Unterhaltung“ dürften die Verstrickungen und Charakterzeichnungen hingegen zu oberflächlich daherkommen.

Fazit: „Innocent Lies“ ist ein edeler, altmodisch inszenierter Thriller für Fans von Agatha Christie Krimis, welcher zwar mit einer guten Prämisse und sinnlichen Hauptdarstellerin aufwarten, damit jedoch eine Reihe von Konzeptionsschwächen im Gesamtbild nicht wettmachen kann, wodurch am Ende nur mäßige „5 von 10“ bleiben.

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