"Innocent Lies" ist ein passabler Neo-Noir Krimi, der aber stark an der heillosen Überfrachtung des Drehbuchs leidet. Dennoch gelingt es, in erster Linie dank der sehr guten schauspielerischen Leistungen - insbesondere der von Gabrielle Anwar - die Spannung mühelos bis zum fulminanten Schluss aufrecht zu erhalten.
Die "suspension of disbelief" wird aber auf eine harte Probe gestellt: Ein englischer Kommissar untersucht unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs quasi privat in Frankreich den angeblichen Selbstmord seines pensionierten ehemaligen Vorgesetzten, der gegen eine hochangesehe Aristokratenfamilie ermittelt hatte. Die französische Polizei und der Präfekt des Departments sind ihm dabei zu Diensten, als wäre Frankreich in der Zwischenkriegszeit eine englische Kolonie gewesen. Er kann nach Belieben Verdächtige verhaften oder auch wieder freilassen, die französischen Behörden folgen seinen Anordnungen widerspruchslos. Der Film würde aber genausogut, oder sogar viel besser funktionieren, wenn es ein französischer Kommissar mit der vollen Autorität in seiner Jurisdiktion wäre. Auch ein französischer Ermittler hätte der Hauptverdächtigen verfallen können, mehr noch vielleicht als ein kühler Brite. Dass sowas überall passieren kann, wissen wir spätestens seit "Basic Instinct".
Der Selbstmord, der die Handlung anstößt, spielt im weiteren Verlauf des Films übrigens keine Rolle und es wird auch kein Bezug mehr darauf genommen. Vielmehr setzt der Regisseur auf das gnädige Vergessen des Publikums.
Der englische Kommissar hat zu allem Überfluss Eheprobleme und deshalb seine kleine Tochter mit nach Frankreich genommen. Er lässt sie bei einem Mordopfer allein herumspielen, was völlig überflüssig und vor allem absolut unglaubwürdig ist. Sie findet dort zwar etwas, das die Handlung weiter treibt, aber das hätte genausogut der Kommissar selbst finden können, oder meinetwegen das Hausmädchen. Welcher Vater würde seine sechsjährige Tochter bei einer schlimm zugerichteten Frauenleiche sich selbst überlassen?
Obendrein flüchten in einer weiteren Rahmenhandlung jüdische Familien aus dem Dritten Reich über die Stadt, in der der Film spielt. Auch das hat mit dem Kriminalfall nichts zu tun. Hier hätte man strikt fokussieren müssen und die durch den Wegfall der diversen Rahmenhandlungen gewonnene Zeit von gut einer halben Stunde für die bessere Herausarbeitung der Charaktere der Hauptprotagonisten sowie die strukturiertere Darstellung der Haupthandlung verwenden sollen.
Ich habe den Film mit 9/10 bewertet, weil er trotz dieser Schwächen unglaublich gut funktioniert. Das verdankt er neben den bereits erwähnten schauspielerischen Leistungen der raffinierten Kameraarbeit von Patrick Blossier in 2,35:1 Cinemascope Grandeur, der eindringlichen Musik von Alexandre Desplat und nicht zuletzt dem fantastischen Production Design von Bernd Lepel, die zusammen eine beunruhigende, in Bann schlagende Atmosphäre schaffen. Die Jugendstil-Villa, in der der Film die meiste Zeit spielt, ist ein echtes Juwel, das für Architekturinteressierte schon allein den Film sehenswert macht. Schade dass Patrick Dewolf als Regisseur die Schwächen seines eigenen Drehbuchs bei der Realisierung nicht erkannt und ausgemerzt hat. Trotzdem: Ein überdurchschnittlicher Film und ein echtes Schmankerl für Film-Noir Fans. Sehenswert allemal.