Eine Filmbewertung findet nie im luftleeren Raum statt: immer hat man schon was über den Film gelesen, einen Werbeblurb auf einer Anzeige mehr oder weniger bewußt wahrgenommen und dann hat es immer auch schon vorher Filme gegeben, die das jeweilge Thema in ähnlicher Weise, manchmal besser, manchmal schlechter abgehandelt haben. Eine Binsenweisheit, natürlich, doch man sollte sich dies bisweilen vor Augen führen, denn oft sind es gerade diese Bezüge, die uns den Film verleiden oder auch hochleben lassen und nicht allein die Qualitäten des Werks selbst. Im Falle von Fessendens "Wendigo" hatte ich das Glück, keine Werbebotschaften empfangen zu haben. Ich las lediglich den Titel und da mich der Wendigo-Mythos interessiert, sah ich mir den Film an und wurde nicht enttäuscht. Zu Anfangs war ich etwas pikiert ob des rauschigen Bildes (eben Video auf Film aufgeblasen) und der betont avantgardistischen Filmsprache, vermutete gar einen Trittbrettfahrer im Gefolge von Blair Witch Project, doch der weitere Verlauf zeigte, daß hier nicht nur auf Hype und billigsten Oberflächeneffekt gesetzt wurde wie in letztgenanntem Filmphänomen (phänomenal eher aufgrund des unverständlichen Erfolgs), sondern durchaus tiefere Schichten angesprochen werden. Herausragend muß in diesem Zusammenhang die schauspielerische Leistung aller Beteiligten genannt werden, denn sie ist, selbst hinsichtlich der Redneck-Darstellung sehr zurückhaltend und glaubwürdig. Die Bezeichnung "Horror" ist in diesem Fall tatsächlich bisweilen eine Sackgasse, denn eigentlich ist es ein Psychodrama und die menschliche Seelenlandschaft bedingt schon per se Grauen genug. Die zunächst allzu heil präsentierte Kleinfamilie zeigt bald Risse, die sich in kleinen, aber heftigen Wortscharmützeln äußern und durch den Unfall mit dem Hirsch und dem darauffolgenden Streit mit den Jägern weiter vergrößert werden. Geht man nach der Kurzgeschichte gleichen Titels von Algernon Blackwood, dann ist der Wendigo zwar auch als großes Waldtier personalisiert, aber mehr noch eine Form der Besessenheit des "immer höher, größer, weiter", also der Maßlosigkeit, die zuguterletzt in Mord und Totschlag enden muß. Dieses Motiv bildet auch den Hintergrund in Larry Fessendens Film. Diese Stimmung des Hungers nach Beschleunigung wird visuell sehr geschickt durch Zeitraffungen und andere Tricks (weitgehend "analog"!) dargestellt, gut, vielleicht bisweilen ein wenig zu sehr verliebt in die filmtechnische Trickkiste, aber dennoch effektiv. Auch die Tatsache, daß Anfang und Ende Ouroboros-artig zusammenfinden - der Mörder des Familienvaters wird vom Auto des Hilfsscheriffs ebenso angefahren wie der Hirsch zu Anfang durch den Vater - unterstreicht den Aspekt des ruhelosen Bösen, das immer wiederkehrt. Auch die Betonung der Farbe blau hält die winterlich-frostige Stimmung bis zum Schluß, ohne aber zu sehr romantische Aspekte herauszuheben und somit die Betonung unangemessen auf äußerliche Stimmungen zu lenken. In diesem Fall, um nochmal auf die Bezogenheit von Filmkritiken zurückzukommen, war auch das Bonusmaterial der DVD recht aufschlußreich, denn Fessenden meint in seiner Einführung zum Film, daß er eine Art "coming of age" Story vermitteln wollte, nämlich der Verlust kindlicher Unschuld von der Tötung eines Tieres bis hin zum Verlust eines nahestehenden Menschen und das wird in der sehr gelungenen Schlußsequenz deutlicher den je: symbolisch werden im Krankenhaus der Mutter die Schuhe ihres gerade verstorbenen Mannes in die Hand gegeben und sie wendet sich in ihrer Überwältigung von ihrem weiter unten im Gang stehenden Sohn ab und verschwindet (im Off), so daß nur noch die Schuhe im Gang stehen ("in die Fußstapfen treten"?). In just diesem Moment wird der tödlich verletzte Mörder hereingeschoben und die Blicke treffen sich. Der Junge blickt ihn wissend und nicht im geringsten haßerfüllt an, während ihn der Mörder seines Vaters fast flehend ansieht. Diese Szene tröstet über den wohl einzig wirklich gravierenderen Schwachpunkt des Films hinweg, nämlich der gegen Ende erfolgenden konkreten Darstellung des Wendigo. Grundsätzlich würde es dem Ton des Films nicht widersprechen, denn Menschen haben immer der Personifizierung bedurft und es wird in diesen Szenen auch klar, daß es nur der jeweilige "Besessene" ist, der den Wendigo sieht, trotzdem wirkt die Monstrosität, auch wenn sie eingebettet ist in visuelle Effekte ist, zu realistisch, soll heißen, genau als das, was es ist: ein Typ im Hirschkostüm. Der Regisseur scheint sich Ähnliches gedacht zu haben, denn das "alternative Ende" beinhaltet noch mehr "Hirsch-Action", die für das tatsächliche dann doch noch zurückgeschnitten wurde.
Summa summarum wird die unheimliche und bedrückende Grundstimmung dadurch aber nicht kompromittiert und es bleibt ein gut gemachter, persönlicher Horror-Autorenfilm übrig, der beweist, daß es auch in den USA noch Leute gibt, die Filme machen können, auch wenn uns Hollywood das Gegenteil beweisen will...und daher erhöhe ich meine ursprüngliche Punktezahl von 7 gleich auf acht! Wer allerdings CGIs, coole one-liner und eine "natürliche Führungspersönlichkeit" erwartet, die das Urböse zum Schluß in einem echt männlichen Faustkampf fertig macht, den werden 1 1/2 der schlimmsten Stunden seines Lebens erwarten.