Meine Rezension bezieht sich auf die mehr als fünfstündige Version, die seinerzeit als dreiteilige Kleinserie im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Die radikal zusammengekürzte Kinoversion scheint mir gar nicht erst der Besprechung wert - aus Gründen, die sich aus dem Urteil über die Langversion von selbst ergeben.
Die Geschichte des Hans Castorp - des Romanhelden in Thomas Manns "Zauberberg" - spielt nach Aussage des Autors "vormals": das meint weniger den Ablauf der Zeit selber, der als eines der Hauptthemata das ganze Werk durchzieht, als ein Vorher, nämlich "vor dem großen Kriege", dem ersten Weltkrieg. Thomas Mann nutzte diese Zäsur, um ein aus Sicht des Autors und Lesers abgeschlossenes (und darum objektiv betrachtbares) Gesamtbild dieser Epoche zu entwerfen, deren Zeitgenosse Thomas Mann selbst noch war, und - darin eingebettet - ein Bild vom ganzen Menschen, seiner Substanz, seinem Geist, seinen Leidenschaften, seinem Daseins-Sinn. Das Werk ist ein groß angelegter Bildungsroman, dessen Inhalt unmöglich mit wenigen Sätzen zusammengefaßt werden kann: dass Hans Castorp als frischgebackener Ingenieur seinen lungenkranken Vetter Joachim Ziemßen in einer luxuriösen Lungenheilanstalt in Davos besucht, dass aus den geplanten drei Wochen Aufenthalt dort sieben Jahre werden, in denen Hans sich unglücklich verliebt, Joachim an seiner Erkrankung verstirbt, ein italienischer Literat und Freimaurer (Ludovico Settembrini) und ein Schweizer Jesuit (Leo Naphta) um geistig-pädagogischen Einfluß auf den Romanhelden konkurrieren, dessen Schicksal sich schließlich im Kriegsdienst des Weltkriegs verliert - das alles ist nur oberflächliche Handlungslinie. Der eigentliche Inhalt des Romans liegt in der Gesamtheit der penibel beschriebenen, abgeschiedenen Sphäre derer "da oben", die auf 5000 Fuß Höhe über dem Flachland ihr "horizontales Leben" fristeten, in einer Art heiterer Todesnähe, die von gesunden Zeitgenossen oft als lästerlich morbide empfunden wurde.
Lungenheilanstalten mit dieser traditionellen Liegekur auf dem Balkon gab es noch bis in die späten 60er Jahre; ich selbst habe vor über 50 Jahren als jugendlicher Tuberkulose-Patient noch ein Jahr in einer solchen Anstalt verbracht. Die morbide Atmosphäre, die Thomas Mann in seinem Meisterwerk so trefflich beschrieben hat, war auch da noch zu spüren, ebenso wie das eigenartige aus-der-Zeit-Fallen in einer Institution, die die Aufenthaltszeit nicht nach Tagen oder Wochen, sondern nach Monaten und Jahren bemaß.
Das führt mich zu einem ersten - leider negativen - Urteil über Geissendörfers Film: die morbide Atmosphäre, die brüchige Vergnügtheit, der mitunter rabenschwarze Humor, die Bereitschaft zur Verdrängung, mit der die Insassen einer solchen Heilanstalt den tatsächlichen Ernst ihrer Lage zu sublimieren versuchten, wurde im Film krass verfehlt. Um diesen Geist zu verstehen, muß man die Lebensäußerungen in ihrem permanenten, ständig darüber schwebenden, ernsten Umfeld betrachten. Im Bemühen, möglichst viel authentisches Romangeschehen in den Film zu packen, reißt es der Film großenteils aus diesem Zusammenhang, zeigt es isoliert: und so wird aus der heiteren - manchmal gar ausgelassenen - Todesnähe des Romans im Film mitunter ein alberner Käfig voller Narren.
Auch die einzelnen Figuren wurden - trotz fast ausnahmslos exzellenter, schauspielerischer Leistung der einzelnen, sorgfältig ausgesuchten Darsteller - nur teilweise wirklich getroffen. Das Missverständnis beginnt schon bei der Hauptfigur: der Hans Castorp des Romans ist nicht der voraussetzungslos naive Jüngling und träumerische Liebhaber des Films, sondern ein ausgewachsener, junger Mann mit abgeschlossenem Studium, der schon als Korps-Student nichts ausgelassen hat und auch den pädagogischen Bemühungen seines Mentors Settembrini bei aller Hochachtung durchaus kritisch gegenübersteht, ihm zeitweise sogar bewußt und mit gutem Grund die Gefolgschaft versagt. Auch seine Romanze mit Clawdia Chauchat ist keineswegs so asymmetrisch, wie Geissendörfer das darstellt: die Liebesnacht im Karneval - im Roman nur sehr zart, fast ausschließlich in späteren Rückbezügen angedeutet - ist ein durchaus symmetrischer Akt der Leidenschaft, nicht etwa nur ein Mitleids- und Gnadenakt der reifen Clawdia gegenüber einem unbedarften Jüngling, wie es im Film erscheint. Ebenso ist auch Hans Castorps Verhältnis zu Mynheer Peeperkorn im Roman bei weitem nicht so asymmetrisch wie im Film: die Freundschaft zwischen den beiden ist im Roman nicht nur einseitigem, resignierendem Verzeihen des alten, kranken Mannes gegenüber dem jungen Nebenbuhler geschuldet. Der "wirkliche" Hans Castorp gewinnt diese tief empfundene Männerfreundschaft ganz abseits von Clawdia, geradezu hinter ihrem Rücken, und doch auch im vollen, beiderseitigen Bewußtsein um die Konkurrenz.
Es würde zu weit führen, mit dieser Kritik nun in alle Verzweigungen und Verästelungen des Romans einzudringen. Einzig die Figur des Hofrat Behrens (von Hans Christian Blech meisterlich verkörpert) trifft im Film seine Romanfigur mit großer Genauigkeit. Summarisch bleibt zu konstatieren, dass Hans Geissendörfer in dem durchaus ehrenwerten Versuch, möglichst viel des Romaninhalts in einen Film zu packen, das eigentliche Thema verfehlt hat. Darüber hilft auch die durchweg sehr zu lobende Mitwirkung erstklassiger Darsteller und die durchaus authentisch dargestellte Kulisse nicht hinweg: die Botschaft eines 1100 Seiten langen, atmosphärisch überaus dicht geschriebenen, philosophisch-anthropologischen Romans durch bloße Verdichtung in ein paar Stunden Film zu packen, ist schlichtweg unmöglich. Solche Verdichtung führt zu einer Vergröberung und Überzeichnung des Inhalts, die von der originalen Aussage am Ende kaum etwas übrig läßt: das Ergebnis ist eher Karikatur denn Zitat. Und was schon für die 5-stündige Fernsehversion gilt, gilt für die zweistündige Kinoversion erst recht. Die besten Szenen des Films bleiben diejenigen, in denen einfach nur aus dem Off Thomas Manns Originaltext zitiert wird.
Ein von vornherein hoffnungsloses Unterfangen also? Nicht ganz: der russische Regisseur Andrej Tarkowskij hat u. a. mit seiner Verfilmung von "Solaris" - eines inhaltlich völlig anderen, aber philosophisch ähnlich breit angelegten, als ähnlich unverfilmbar geltenden SF-Romans - bewiesen, dass die Verfilmung eines solchen Stoffs sehr wohl möglich ist: man muß ihn dann aber ganz neu und von Grund auf anders - eben in der spezifischen Sprache des Films - erzählen. Im Fall des "Zauberberg" bedürfte es dafür freilich eines cineastischen Erzähler-Genies vom künstlerischen Range eines Thomas Mann. Tarkowskij, dem ich das durchaus zutrauen würde, lebt leider nicht mehr...