Matthew hat seine Tochter Cassandra nur eine Minute im Wagen gelassen, um in der eingeschneiten kanadischen Provinzstadt etwas zu kaufen, da ist sie spurlos verschwunden - offenbar entführt. Die Polizei ermittelt, aber die Detectives Dunlop und Cornwall halten Matthew selbst für verdächtig, worüber seine Ehe zerbricht. Zwar finden die Behörden ein Foto des Kindes im Web, nicht aber den Aufenthaltsort. So wächst sie in der Gewalt des Überwachungsfreaks Mika auf, der den ganzen Ort verwanzt hat und informiert ist, als ihm Matthew acht Jahre später die Schliche kommt.
Immer wieder trifft man auf Filme bei denen eine objektive Bewertung verhältnismäßig schwer fällt, da sie aufgrund ihrer Erzählstruktur die Meinungen der Zuschauer spalten werden. So dürfte es sich auch beim neuesten Werk des ägyptischen Regisseurs Atom Egoyan verhalten, denn obwohl mit der Thematik der Kindesentführung ein alt bekanntes und beliebtes Metier beschritten wird dürfte die vorliegende Geschichte längst nicht jedermanns Geschmack entsprechen. Zuerst einmal sollte man jedoch darauf hinweisen, das mit "The Captive" definitiv kein Thriller im herkömmlichen Sinne vorliegt, denn wer eine Erzählung voller Suspense und Thrill erwartet der dürfte hier eher enttäuscht sein. Die eigentliche Entführung der jungen Cassandra steht vielmehr im Hintergrund der Geschehnisse, die sich in erster Linie als tiefer gehendes Psychogramm der Hauptfiguren entpuppt. Egoyan nimmt sich ausreichend Zeit, dem Betrachter die für die Story wichtigen Figuren näher zu bringen, wobei dabei nicht nur die betroffene Familie, sondern gleichermaßen auch die Entführer und die ermittelnden Beamten immer wieder im Mittelpunkt stehen. Das Hauptaugenmerk wird dabei auf die psychischen Auswirkungen des mittlerweile 8 Jahre zurück liegenden Entführungsfalls gelegt, der bei wirklich allen Beteiligten sichtbare Spuren hinterlassen hat die hier erstklassig in Szene gesetzt wurden.
So bekommt man beispielsweise einen tiefen Eindruck wie sehr sich die Eltern von Cassandra durch die Ereignisse auseinandergelebt haben und gerade von der Seite der Mutter werden dabei immer wieder Schuldvorwürfe in Richtung ihres Mannes auf der seine Tochter zur damaligen Zeit einige Minuten unbeobachtet im Auto zurückgelassen hat. Das tiefe Zerwürfnis zwischen den beiden Eheleuten kommt ebenso immer wieder zum Vorschein wie auch die Verzweiflung über den Verlust der geliebten Tochter. Als die Täter dann nach den ganzen Jahre ein nahezu perfides Spiel starten in dem sie Cassandra im Internet erscheinen lassen keimt dann wieder Hoffnung auf eine Rückkehr des geliebten Kindes auf. Von nun an gestaltet sich das Ganze dann emotional recht zwiespältig für den Zuschauer, wird dieser doch einerseits phasenweise vom Mitleid für die Betroffenen übermannt, um gleichzeitig aber auch die sadistische Neigung der Täter präsentiert zu bekommen, die sich am Leid der Familie richtiggehend ergötzen. Aber auch den ermittelnden Beamten geht das perfide Spiel recht stark an die Nieren, denn kein einziger der Detectives hat in den ganzen Jahren die Hoffnung auf eine Rettung des mittlerweile fast erwachsenen Mädchens aufgegeben. Immer wieder kommt es im Laufe der Zeit auch unter den Beteiligten zu diversen Spannungen, die sich insbesondere in der Beziehung zwischen dem Vater (Ryan Reynolds) und einem der Ermittler (Scott Speedman) auch körperlich entladen.
Atom Egoyan hat sich für eine relativ ruhige Erzählweise der Abläufe entschieden, was in vorliegendem Fall jedoch genau der richtige Weg war, denn nurt so kann "The Captive" auch seine volle Wirkung und Intensität entfachen. Dazu muss man sich allerdings auf das Werk einlassen, denn an etlichen Stellen hat der Regisseur etwas unnötig verkompliziert, indem er die Ereignisse immer und immer wieder auf verschiedenen Zeitebenen spielen lässt. So beginnt das Szenario beispielsweise in der Gegenwart, um danach ständig zwischen den eingeblendeten Jahren hin und her zu springen. Das lässt phasenweise schon leichte Irritationen entstehen und man muss wirklich durchgehend voll konzentriert bei der Sache sein. Auf die Dauer ist das gar nicht einmal so leicht und in einigen Momenten erscheint es sogar recht anstrengend, den Geschehnissen auch durchgehend zu folgen. Dennoch macht diese Art von Kunstform dieses Werk auch irgendwie besonders und verleiht ihm in meinen Augen einen ganz eigenen Reiz. Thematisch gesehen erinnert "The Captive" schon ein wenig an den grandiosen "Prisoners" von Denis Villeneuve, der bei seinem Film allerdings mehr Wert auf die Crime-Komponente gelegt hat, während die Geschichte Egoyan's sich doch immer mehr zu einem Drama entwickelt, was jetzt aber keinesfalls als negative Kritik aufgefasst werden sollte.
Es liegt halt im Auge des jeweiligen Betrachters ob man etwas mit "The Captive" anfangen kann, denn während manch einer diesen Film sicherlich als langatmig und zäh bezeichnen wird, dürfte sich für andere eine erstklassig bebilderte Story auftun, in der jede Menge Klasse vorhanden ist. Diese wird auch von den winterlichen Schauplätzen zusätzlich hervor gehoben, denn die visuelle Darstellung der teils kargen Winterlandschaft unterstreicht auch den manchmal fast depressiven und hoffnungslosen Eindruck, den die Hauptfiguren phasenweise ausstrahlen. Der unterkühlte und eisige Look des Szenarios ist eine der ganz großen Stärken eines Filmes der dem Betrachter richtig unter die Haut geht. Man sollte schon im Vorfeld die eigenen Erwartungen in die richtigen Bahnen lenken, denn Freunde des typischen Thrillers werden hier weniger bedient. Dafür dürften jedoch die Liebhaber starker Figurenzeichnungen und guten Schauspiels voll auf ihre Kosten kommen, denn die gesamte Darsteller-Riege liefert hier mehr als ordentliche Leistungen ab.
Fazit:
"The Captive" ist vielmehr Drama als Thriller und erzählt die enthaltene Thematik auf eine nicht alltägliche Art und Weise. Die Gewichtung der einzelnen Zutaten gestaltet sich dabei anders als in vergleichbaren Genre-Vertretern und dieser Aspekt führt sicherlich dazu, das nicht jeder etwas mit diesem ausgezeichneten Film anfangen kann. Eine Sichtung sollte man allerdings definitiv wagen, denn eventuell erlebt man auch einer äußerst positive Überraschung, wie es auch bei mir persönlich der Fall war.
8/10