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“Die Schatten von Wien”


Wien 1945: Zerbombte Häuser, Schutt und Trümmer, Lebensmittelknappheit. Verbrechen und Schwarzmarkt blühen. Eine geteilte Stadt, die vier Sektoren kontrolliert von der jeweiligen Besatzungsmacht. In diese trostlose Szenerie der einstigen Weltmetropole kommt der amerikanische Schriftsteller Holly Martins (Joseph Cotton) auf die Einladung seines alten Schulfreundes Harry Lime (Orson Welles). Wenig später erfährt er von dem mysteriösen Unfalltod Limes und wird von Major Calloway (Trevor Howard) - dem englischen Vertreter der internationalem Militärpolizei - über eine angebliche Schieberkarriere seines Freundes informiert. Martins ist nun von der Ermordung Limes überzeugt und sieht in ihm das unschuldige Opfer einer Verschwörung. Zusammen mit Limes Geliebter Anna (Alida Valli) versucht er den vermeintlichen Mord aufzuklären.

Als Carol Reeds Thriller Der dritte Mann im September 1949 in die britischen Lichtspielhäuser kam, wurde er von Publikum und Kritik gleichermaßen euphorisch gefeiert. Nachdem er auch noch bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes den erstmals vergebenen großen Preis gewann, entwickelte er sich zum internationalen Kassenschlager. Bis heute gilt er zu Recht als Meisterwerk und Klassiker der Filmgeschichte und hat nichts von seiner Faszination eingebüßt. Aber was macht diesen Film so zeitlos gut?
Zunächst einmal entstammt er einem der meistzitierten und einflussreichstem Genres der Filmhistorie: Hollywoods „Schwarzer Serie“ (1940er bis Mitte der 1950er Jahre). Kaum ein Genre hat eine solche Vielzahl berühmter Klassiker hervorgebracht: u.a. Die Spur des Falken (1941), Frau ohne Gewissen (1944), Tote schlafen fest (1946), Die schwarze Natter (1947), Boulevard der Dämmerung und Asphalt Dschungel (beide 1950). Zahlreiche Regisseure haben sich vom „Film Noir“ inspirieren lassen und zeitgemäße Variationen gedreht: Roman Polanski (Chinatown, 1973), Martin Scorsese (Taxi Driver, 1976), Ridley Scott (Blade Runner, 1982) und v.a. Brian de Palma (Black Dahlia, 2006), der immer wieder aus dem Fundus der „Schwarzen Serie“ zitiert. Ganz aktuell schließlich die beiden Kritikerlieblinge David Fincher (Sieben 1995, The Game 1997) und Christopher Nolan (Batman Begins, 2005) die man durchaus als Vertreter eines „Neo-Noir“ bezeichnen könnte. Der „Film Noir“ ist quicklebendig und „hipper“ den je.

Der dritte Mann
vereint sämtliche Zutaten und Stilmittel der „Schwarzen Serie“ zu einem homogenen Ganzen. Da wäre zunächst die Figurenzeichnung. Der „Held“ Holly Martins ist ein ambivalenter Charakter. Er hat es mit zweitklassigen Westernromanen zu leidlicher Berühmtheit gebracht, Kenner und Liebhaber angloamerikanischer Literatur haben allerdings noch nie von ihm gehört, eine Veranstaltung mit ihm als Gastredner verlasen sie gleich zu Beginn. Er steht keinesfalls über den Dingen, sondern ist in sie verstrickt und ihnen letztendlich ausgeliefert. Auf der Suche nach der Wahrheit irrt er durch das nächtliche Wien (und den Film). Die Wahrheit die er schließlich findet, lässt ihn enttäuscht und desillusioniert zurück. Seine Liebe zu Limes Freundin Anna bleibt einseitig und unerfüllt. Ein traditioneller Hollywoodheld sieht anders aus.
Demgegenüber steht der Antiheld Harry Lime. Obschon tief in verbrecherische Schiebereien verstrickt (illegale Geschäfte mit verdünntem Penicillin), skrupellos und zynisch, wirkt er neben dem müden Martins schillernd und charismatisch. Orson Welles gibt eine seiner besten Vorstellungen und verleiht seiner Figur Charm, Witz und eine Spitzbübigkeit, die ihn klar zum Sympathieträger macht. Beinahe lässt er den wahren (bösen) Charakter Limes vergessen. Nur seine zynisch-sarkastischen Äußerungen holen den Zuschauer auf den Boden der Tatsachen zurück.
Anna Vialli schließlich gibt die unnahbare, verführerische aber letztlich kalte Anna Schmidt. Sie komplettiert die für die „Schwarze Serie“ so typische, problembehaftete Dreiecksbeziehung. Während sie ihrem verstorbenen Geliebten Harry Lime nachtrauert, verschleißt sie sich gegenüber den aufkeimenden Gefühlen Holly Martins. Den gängigen Genremustern entsprechend ist sie dunkelhaarig und zwielichtig.

Entsprechend den gängigen Mustern der „Schwarzen Serie“ zeigt Der dritte Mann eine krisenhafte Gesellschaft, die jederzeit kippen kann. Unmoral und Desillusioniertheit beherrschen die Szenerie. Auch die für den Film Noir klassischen Themen „Verbrechen“ , „Unglück“ , „schicksalhafte Verstrickung“ und das „Fluchtmotiv“ werden sämtlich aufgegriffen.
Dieses krisenhafte Weltbild spiegelt sich auch in Erzählweise und Bildsprache. Die Geschichte wird keineswegs geradlinig entwickelt. Der Held weiß nicht mehr als der Zuschauer und wird mit zahlreichen überraschenden Wendungen und Fallstricken konfrontiert. Nichts ist letztendlich so wie es zu sein scheint.
Der visuelle Stil definiert sich in erster Linie durch Licht-und-Schatten-Spiele. (Wie alle Vertreter des klassischen „Film Noir“ wurde auch Der Dritte Mann in Schwarz-Weiß gedreht.) Gegenstände und Personen werfen oft übergroße, unheilvolle Schatten. Der Einsatz von Licht wirkt meist theatralisch und verleiht den angestrahlten Gesichtern eine geheimnisvolle Aura. Häufig werden Gesichter auch nur von einer Seite beleuchtet, was die Zerrissenheit und Ambivalenz der Charaktere noch zusätzlich unterstreicht. Die vorherrschende Dunkelheit schafft eine unheimliche, düstere Atmosphäre, steht aber auch für Schutz und Geborgenheit. In einer Schlüsselszene des Films fällt das Licht eines zufällig geöffneten Fensters wie ein Spotlight auf das Gesicht Harry Limes. Verborgen in der Dunkelheit einer Mauernische (symbolisch für seine geheimen, zwielichtigen Machenschaften) wird der tot geglaubte Schwarzmarktschieber durch das Licht bloßgestellt und ist nun dem Gesetz (schutzlos) ausgeliefert. Die Aussprache der beiden ehemaligen Schulfreunde findet bezeichnenderweise am helllichten Tag statt. Lime hat nun vor Martins nichts mehr zu verbergen und versucht ihn von seinen Motiven zu überzeugen und letztendlich als Partner zu gewinnen.
Neben den kontrastierenden Helldunkelspielen arbeitet der Regisseur vor allem mit Einstellungen aus der Froschperspektive sowie Diagonalen. Schafft die Kameraeinstellung von unten eine enge, bedrückende und teilweise klaustrophobische Atmosphäre, so vermitteln die schrägen Einstellungen den Eindruck von Desorientierung und Chaos. Letzteres findet sich häufig in der Anfangsphase des Films als Martins hinter das Geheimnis von Limes vermeintlicher Ermordung zu kommen versucht und mit zunehmender Dauer eher verwirrter als klarsichtiger wird.

Die Darstellerleistungen sind bis in die kleinsten Nebenrollen superb. Joseph Cotton spielt den zwischen Freundschaft und Moral hin- und her gerissenen Holly Martins überzeugend als müden und desillusionierten Charakter. Er ist keinesfalls ein strahlender Held. Obgleich er der Gerechtigkeit zum Sieg verhilft, bleibt er letztendlich ein Versager: neben seinem besten Freund verliert er auch die Zuneigung Anna Schmidts, in die er sich verleibt hatte.
Auch Anna Vialli verleiht der ambivalenten Figur der Anna Schmidt Glaubwürdigkeit und Tiefe. In den Nebenrollen glänzen Trevor Howard als kaltschnäuziger Militärpolizist, Bernard Lee (berühmt als Geheimdienstchef „M“ in den ersten 11 Bond-Filmen) als sein gutmütiger und einfältiger Sergeant und nicht zuletzt Paul Hörbiger als schrulliger Hausmeister.

Der unbedingte Wunsch des Regisseurs (gegen den Widerstand seiner amerikanischen Partner) für die Rolle des Harry Lime den exzentrischen Orson Welles zu verpflichten, erwies sich als einer der größten Pluspunkte des Films. Obgleich Welles seinem Ruf als Diva mehr als gerecht wurde - so weigerte er sich beispielsweise die finale Verfolgungsjagd in der Kanalisation Wiens zu drehen, da er unter solch widrigen Bedingungen nicht arbeiten könne - , gibt er eine famose Vorstellung und drückt Figur wie Film seinen Stempel auf. Die von Regisseur Reed und Drehbuchautor Graham Green ambivalent angelegte Figur des verbrecherischen Schwarzmarktschiebers macht Welles durch Witz, Charm und Intelligenz zum absoluten Sympathieträger des Films. Und das mit gerade einmal 15 Minuten Screentime. Legendär sind die von Welles verfassten Dialogzeilen Harry Limes beim Abschied von seinem Freund Martins. Reinster Zynismus, vorgetragen mit einem charmanten Lächeln: „In den 30 Jahren unter den Borgias hat es nur Krieg gegeben, Terror, Mord und Blut. Aber dafür gab es Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance. In der Schweiz herrschte brüderliche Liebe, 500 Jahre Demokratie und Frieden. Und was haben wir davon? - Die Kuckucksuhr.

Neben Welles gibt es noch einen weiteren heimlichen Hauptdarsteller: das Viermächte-Wien. Die authentische, weil reale Ruinenlandschaft der zerbombten Stadt fängt die gebrochene Stimmung der Nachkriegszeit verstörend intensiv ein. Die Wunden des gerade beendeten Krieges sind allgegenwärtig. Zerschossene Mauern, herumliegende Schuttberge, vereinzelte klapprige Autos, düstere und verwaiste Straßenzüge. Die Blicke der Menschen (als Statisten fungieren vornehmlich echte Wienbewohner) wirken müde, ausgezehrt und gezeichnet. Somit ist Der dritte Mann nicht nur ein klassischer „Film Noir“, sondern auch ein Dokument der unmittelbaren Nachkriegszeit, ein „Trümmerfilm“.

Wenn heute vom „Dritten Mann“ die Rede ist, dann gibt es neben dem „Trümmer-Wien“ aber vor allem eine Assoziation: Zither-Musik. Die Entscheidung, einzig Kompositionen des bis dato relativ unbekannten österreichischen Zither-Spielers Anton Karas für den Film zu verwenden, erwies sich als genialer Schachzug. Auch hier setzte sich Reed gegen seine amerikanischen Produzenten durch, die einen klassischen symphonischen Filmscore bevorzugten. Das spartanische, harfen-ähnliche Instrument passte perfekt zu den düster-melancholischen Bildern und der authentischen Wienatmosphäre. Als besonders eingängig sollte sich dabei das „Harry Lime Theme“ erweisen, mit dem Reed alle Stellen des Films unterlegte, in denen Lime auftauchte bzw. von ihm die Rede war. Das Stück wurde zum Welthit, stand 11 Wochen auf Platz eins der US-Charts und verkaufte sich bis 1963 über 40 Millionen Mal.


Fazit:
Carol Reeds Der dritte Mann ist ein zeitloser Klassiker der Filmgeschichte und einer der besten Vertreter des „Film Noir“. Sämtliche klassischen Zutaten der „Schwarzen Serie“ - extreme Licht-und-Schatten-Spiele, ungewöhnliche Kameraeinstellungen, ambivalente Charaktere und Sujets wie Verbrechen, Unglück und schicksalhafte Verstrickung - bilden ein homogenes Ganzes und verdichten sich zu einem beklemmend-düsteren Bild einer krisenhaften Gesellschaft. Gedreht an Originalschauplätzen des zerbombten Nachkriegs-Wien atmet der Film Authentizität, ist nicht nur „schwarzer Thriller“, sondern Zeitdokument. Die Darstellerleistungen sind superb. Vor allem wie der exzentrische Orson Welles die zwielichtige Figur eines verbrecherischen Schwarzmarkthändlers in lediglich 15 Minuten Leinwandpräsenz zum Sympathieträger macht, ist auch noch nach über 50 Jahren eine Schau. Die bis heute weltberühmte Zither-Musik Anton Karas ist das i-Tüpfelchen eines perfekten Films. Ein Meisterwerk.

(10/ 10 Punkten)

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