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„Seid eine Armee von Telefon-Terroristen!“

Nach seinem Familien-Fantasy-Abenteuer „Hugo Cabret“ besann sich der US-amerikanische Ausnahmeregisseur Martin Scorsese wieder auf das, was sein eigentliches Markenzeichen ist: eine radikale Kinosprache, die viel über die USA und ihre menschlichen wie sozialen Abgründe erzählt. Der 2013 veröffentlichte „The Wolf of Wall Street“ ist eine als Biographieverfilmung Jordan Belforts getarnte, böse, ätzende Satire auf den US-Finanzmarkt und die pathologische Habgier, die dieser befeuert. Zum wiederholten Male arbeitete Scorsese mit seinem Lieblingsschauspieler der Neuzeit, Leonardo DiCaprio, auf äußerst fruchtbare Weise zusammen.

„Es war ein Irrenhaus, eine Orgie der Gier, zu gleichen Teilen auf Kokain, Testosteron und Körperflüssigkeit!“

Der aufstrebende Börsenmakler Jordan Belfort (Leonardo DiCaprio, „Gangs of New York“) arbeitet erfolgreich für Mark Hannas (Matthew McConaughey, „Texas Chainsaw Massacre - Die Rückkehr“) Unternehmen, als der „schwarze Montag“ den schönen Traum zerplatzen lässt und Belfort plötzlich ohne Job dasteht. Doch dann wird er auf die Möglichkeiten aufmerksam, die der Handel mit Pennystocks bietet, bei dem eigentlich weitestgehend wertlose Aktien Privatanlegern als sichere Geldanlagen verscherbelt werden und der Händler satte Provisionen einstreicht. Belfort verdient sich dumm und dämlich und gründet zusammen mit seinem Bekannten Donnie Azoff (Jonah Hill, „Bad Sitter“) die Firma „Stratton Oakmont“, die rasant wächst, immer mehr Händler anzieht, die für sie arbeiten wollen, und sich streng am Zynismus orientiert, den Belfort bei Hanna gelernt hat: Nimm die Kunden aus und führe ein Lotterleben in unermesslichem, protzigem Reichtum, feiere die dekadentesten Partys und zieh dir durch die Nase, was die Scheidewand aushält. Doch das FBI in Person Patrick Denhams (Kyle Chandler, „Super 8“) kommt „Stratton Oakmont“ und somit dem vom Familienmenschen zum „Wolf of Wall Street“ mutierten Belfort langsam auf die Schliche…

DiCaprio als Belfort markiert nicht nur die Hauptrolle des Films, sondern tritt auch als Erzähler aus dem Off in Erscheinung, der Film ist also – wie die ihm zugrundeliegende Autobiographie – aus Belforts Perspektive erzählt. „The Wolf of Wall Street“ ist typisch Scorsese: Kriminelle Lebenswege, Antihelden, einst unschuldige Hauptfiguren, die sich in gierige Monster verwandeln, und (ohne zu viel vorwegzunehmen) nach dem Erklimmen der Spitze der eigenverantwortete Absturz. Die narrativen Parallelen zum Gangsterfilm sind kein Zufall, sondern dienen dazu, Belfort in die Riege jener skrupelloser Mafiosi einzureihen, von denen Scorsese in seinen Filmen schon so oft erzählt hat. Nur handelt es sich diesmal um jene ‘80er-Jahre-Yuppies, jene American Psychos, die ihre ahnungslosen Kunden auspressen, die wiederum auch nicht unbedingt besser sind als sie.

Generell hat „The Wolf of Wall Street“ viel von „American Psycho“, jener an die Nieren gehenden Überzeichnung des neoliberalen Yuppie-Unwesens – mit dem Unterschied, dass „Wolf“ übertrieben und überzeichnet wirken mag, es den Überlieferungen zufolge jedoch offenbar gar nicht ist. So viel hier auch mit Drogen hantiert wird, die eigentliche Sucht ist der Wertpapierhandel und der Reichtum, der mit ihm einhergeht. Auf jeden sich auf dem Konto bemerkbar machenden Kick muss der nächstgrößere folgen, und umso exzessiver muss er gefeiert werden. Die Fische, die Belfort und Co. ausnehmen, werden entsprechend größer. Wie Scorsese diese Vorgänge ebenso verständlich wie unterhaltsam audiovisualisiert, ist nahezu perfekt.

Dies geht einher mit verdammt offenen Dialogen, die nichts beschönigen und vor Vulgärsprache strotzen bei gleichzeitiger – auch offen formulierter – Verweigerung, die genauen Finanzmarkthintergründe aufzudröseln, um das Publikum nicht zu langweilen. Dass Belfort und Co. ins Visier des FBI geraten und schlechte Presse bekommen, stört Belfort kaum, im Gegenteil: Durch den Artikel im Forbes-Magazin avanciert er zum Supermann, für den von nun an jedes Arschloch unbedingt arbeiten will – was mehr als nur ein Indiz für den verkommenen Zustand zumindest von Teilen der US-amerikanischen Gesellschaft während der Reaganomics ist. Die Partys der Finanzyuppies werden immer exzessiver, Drogenmissbrauch (unglaubliche Szenen…) und Prostituiertengebumse galore, von Scorsese mit viel nackter Haut inszeniert. Die Trennung Belforts von seiner Frau (Cristin Milioti, „How I Met Your Mother“) ist logische Konsequenz, die relativ knapp abgehandelt wird; viel Zeit wird hingegen dafür aufgewandt, die Beziehungsanbahnung zum Mannequin Naomi (Margot Robbie, „Suicide Squad“) darzustellen. Robbie ist hier unverschämt sexy und freizügig, ihre Beziehung zu Belfort jedoch auch alles andere als frei von Konflikten.

Geschäftlich werden fast ausschließlich illegale Praktiken betrieben, vorangetrieben mit einer unglaublichen Aggression, einhergehend mit einer fast beängstigenden schauspielerischen Leistung DiCaprios. Wie Belfort und Co. ihre Opfer völlig gleichgültig sind, sind sie es konsequenterweise diesem Film auch. Der Fokus liegt auf Individuen, nicht auf dem System – und schon gar nicht auf den Opfern. Diese bleiben unsichtbar. Auf kontrovers aufgefasste Weise ästhetisiert Scorsese u.a. mit Zeitlupen, Freeze Frames und Tracking Shots die Unmoral und macht oberflächlich betrachtet aus echten Verbrechen Unterhaltungskino, sodass der Verdacht aufkeimen könnte, es er verherrliche sie. Der Film lacht über, aber auch mit Belfort. Wer hätte keine Lust auf einen solchen Exzess, zumal wenn einem kaum Konsequenzen blühen?

Doch genau dies, die Hineinsteigerung in Materialismus und Oberflächlichkeit, ist die implizite Systemkritik, die „The Wolf of Wall Street“ zur Gesellschaftssatire macht. Zyniker Belfort verliert zunehmend seine menschlichen Züge, wird zu einer Grimasse und Karikatur, zu einer Verzerrung – was bereits das erste Bild des Films andeutet. Zugleich bietet dieser viele visuelle Attraktionen, denen man sich zumindest eine Weile gern hingibt. Ob der Repetitivität des Gezeigten wird mit der Zeit daraus jedoch Ekel. Scorsese schien seinen Film mit drei Stunden Laufzeit bewusst zu lang zu gestalten und immer noch einen draufzusetzen, bis ein Großteil seines Publikums endgültig abgestoßen ist von einem weiteren Exzess, noch einer Party, noch mehr Nackedeis – ein zunächst als persönlich empfundenes Gefühl, das irgendwann in Systemekel umschlägt. Komödiantische Höhepunkte wie der des unzuverlässigen Erzählers, während Belfort unter starkem Drogeneinfluss Auto fährt, verblassen schließlich gegen die Empörung, dass Belfort mit einer lächerlich geringen Haftstrafe davonkommt und anschließend weiterhin Menschen an seinen Lippen hängen, wenn er als schmieriger Motivationstrainer auftritt.

Der bis in die Nebenrollen hochkarätig besetzte und geschauspielerte Film trifft Überlieferungen zufolge den Ton der geschriebenen Biographie Belforts, welcher übrigens grinsend an der Filmpremiere teilnahm und auch noch Profit aus der Verfilmung schlug. Wenn man etwas kritisieren möchte, dann sicherlich dies. Einen Film ohne jegliche positive Identifikationsfigur drei Stunden lang durchzustehen, ist nicht jedermanns Sache, schon gar nicht, wenn der größte Kotzbrocken auch noch die vierte Wand durchbricht und einen direkt anspricht. Scorsese wagte ein Vabanquespiel und ging das Risiko ein, missverstanden zu werden. Davon unbeirrt provoziert sein u.a. mit Punk- und New-Wave-Songs unterlegter und sogar Tod Brownings „Freaks“ zitierender Film heftige Reaktionen in verschiedene Richtungen, verwendet vor allem aber Belforts Biographie, um eindrucksvoll zu veranschaulichen, was in diesem Gesellschafts-, Polit- und Finanzsystem möglich war und ist – möglicherweise gar ohne, dass Belfort dieser Umstand, gewissermaßen von Scorsese für dieses Anliegen benutzt worden zu sein, bewusst wäre.

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