„Gier macht geil!"
Eines muss man Martin Scorsese lassen, auch mit 71 Jahren hat er nichts von seiner - eigentlich sonst exklusiv der Jugend zugesprochenen - Lust zum Provozieren und Polarisieren verloren. Wieder einmal entfachte einer seiner Filme einen Sturm der empörten Entrüstung und spaltete Kritiker wie Zuschauer gleichermaßen. Und wieder einmal warf man ihm vor, seine zutiefst unmoralischen „Helden" zu glorifizieren bzw. den nötigen kritischen und anklagenden Abstand vermissen zu lassen. Den dergestalt Gescholtenen wirds freuen, denn was gibt es promotionstechnisch Besseres, als eine gepfefferte Kontroverse.
„The Wolf of Wall Street" heißt das vermeintliche Skandalwerk, das nicht nur vom Titel her die Erinnerung an Oliver Stones Finanzthriller befeuert. Schließlich geht es um die hemmungslose Gier skrupelloser Börsianer nach Reichtum, Sex und Macht, ein Thema also, das auch fast 30 Jahre nach Gordon Gecko noch brandaktuell ist.
Viele sehen Scorseses neuestes Epos - er geht mal wieder stramm auf die 3 Stunden zu - auch als finalen Streich einer Trilogie über das Wesen des Verbrechens in Amerika, über seine schillernden Verlockungen und seine finsteren Abgründe. Tatsächlich gibt es einige Parallelen zu den beiden Mafiaepen „Good Fellas" und „Casino". So verliert auch hier ein zunächst noch gewissen Prinzipien und Wertvorstellungen verhafteter Aufsteiger mit wachsendem Erfolg jegliches Maß an moralischer Integrität und Bodenhaftung. Die schier unersättliche Gier nach immer mehr Geld führt in eine sich immer schneller drehende Abwärtsspirale aus Sex-, Drogen- und Gewalt-Exzessen. Erneut inszeniert Scorsese das Ganze rauschhaft als virtuos bebilderten, famos geschnittenen und rasant erzählten Tanz auf dem Vulkan.
Auf den erhobenen Zeigefinger wird ebenso verzichtet, wie auf eine klar erkennbare Distanz durch ironische Brechung. Simpel gesagt, Scorsese hält einfach voll drauf. So wird man Zeuge wie der an der Wall Street gescheiterte Investmentbanker - er wird Opfer des „Black Monday"-Börsencrashs von 1987 - Jordan Belfort auf die ebenso simple wie geniale Idee kommt, mit sogenannten „Penny Stocks", also Aktien die aufgrund ihres geringen Werts nicht an der Börse notiert sind, zu handeln. Die Kunden sind daher auch keine großen Kapitalanleger oder schwerreiche Firmen, sondern einfache Leute aus der Unter- und Mittelschicht. Das hat den Vorteil, dass man sie noch leichter manipulieren, einseifen und übers Ohr hauen kann als die großen Fische. Zwar bedroht bzw. vernichtet man damit Existenzen, aber daran verschwenden Belford und die sich schnell um ihn scharenden Jünger keinen Gedanken. Wie die Kunden verfällt auch die stetig wachsende Mitarbeiterschar der rasant wachsenden Firma den Rattenfänger -Qualitäten Belforts, der sie mit einpeitschenden Ansprachen zu immer neuen Höchstleistungen treibt.
Aber Belford gibt seinen Gläubigen nicht nur verbal Feuer. So verwandelt er die Büroräume zeitweise in eine sämtliche Regeln des guten Geschmacks negierende Lasterhöhle und feiert hemmungslose Sex- und Drogenpartys. Koks, Alkohol und Nutten aller Preisklassen gehören praktisch zum Inventar. Privat gönnt er sich ein schlossähnliches Ansehen, eine zweite (Supermodel-)Gattin und eine Privathubschrauber. Nach der Arbeit frönt er im illustren Kreis seiner engsten Vertrauten exzessiven Ausschweifungen, die sicher auch dem guten alten Caligula ein anerkennendes Grinsen wert gewesen wären. Als schließlich das FBI auf den Plan tritt und Belforts finanzielle Machenschaften unter die Lupe nimmt, droht die lasterhafte Dauersause ein abruptes Ende zu nehmen.
Dieses durch und durch dekadente und von sämtlichen moralischen Fesseln befreite Leben auf der Überholspur zeigt Scorsese bis ins letzte Detail. Zu gleichen Teilen fasziniert, abgestoßen und amüsiert verfolgt man das zügellose Treiben auf der Leinwand und ist bass erstaunt ob der schier überbordenden Maßlosigkeit. Da erklärt der häufig aus dem Off kommentierende Belford die genau geplante Einnahme-Reihenfolge und verschiedenen Wirkungsgrade diverser Narkotika, die es ihm ermöglichen sollen, einen Langstreckenflug zu überstehen. Im Flugzeug steht er dann dermaßen unter Drogen, dass er versucht sämtliche Flugbegleiterinnen zu besteigen, was schließlich in einer zwangsjackenähnlichen Fesselung an seinen Sitz endet. Einsamer Höhepunkt ist dabei sicher eine mit seinem engsten Partner Donnie Azoff (Jonah Hill) bei der er seiner sämtlichen motorischen Fähigkeiten beraubt sabbernd über den Boden robbt.
Neben solch schonungslos abgefilmten körperlichen Exzessen schlägt der Film aber auch einen mehr als derben Ton an. Einige wollen in der Originalversion mehr als 500 „F-words" gezählt haben. Und auch ansonsten geizen Belford und co. nicht gerade mit sexuellen Anzüglichkeiten und Obszönitäten aller Art.
Streckenweise nimmt der Film so die Züge einer zotigen Komödie an, allerdings einer rabenschwarzen. Die Nominierung bei den Golden Globes in eben dieser Kategorie ist dennoch befremdlich. Denn im Kern ist das Gezeigte alles andere als lustig. Scorsese präsentiert hier eine Schar amoralischer Arschlöcher, die wider besseres Wissen ihren leichtgläubigen Klienten das sauer verdiente Geld aus der Tasche ziehen, um es dann in Saus und Braus zu verprassen. Ihr einziger Antrieb ist eine schier unerschöpfliche Gier nach Geld und den damit verbundenen Möglichkeiten.
Scorsese überlässt es dabei bewusst dem Zuschauer ein Urteil zu fällen, ein sicherlich zwiespältiger, aber auch progressiver Ansatz. Die Nachhaltigkeit ist somit definitiv gegeben. Gerade weil der Film „nur" zeigt und nicht belehrt, erzwingt er eine Beschäftigung mit dem Gesehenen, die mit dem Abspann nicht erledigt ist. Mit einer eindeutig formulierten, verurteilenden oder wertenden Message wäre das Vorgesetzte relativ leicht, bequem und schnell abzuhaken. Mit der Möglichkeit, dass einige den Film in Zukunft als „Partyknaller" konsumieren könnten, wird Scorsese aber auch leben müssen. Das wird zwar garantiert nicht seine Intention gewesen sein, um den Preis eines mündigen und selbst denkenden Publikums - im Kino ja eine Rarität - muss aber auch das möglich sein.
Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, all die unglaublichen Obszönitäten, Entgleisungen und Betrügereien mit dem charmanten Womanizer- und Sunnyboy-Lächeln Leonardo DiCaprios auf die Zuschauer abzufeuern. Und Scorseses aktueller Lieblingsdarsteller (es ist ihr fünfter gemeinsamer Film) gibt hier buchstäblich alles.
Auf den ersten Blick ist Jordan Belfort ein richtig netter Kerl, aber hinter der flauschigen Maske lauert ein gieriges, triebgesteuertes Raubtier und DiCaprio zeigt alle unschönen Facetten dieses Wolfs im Schafspelz. Mit energetischer Verve stürzt er sich in diese Berserker-Rolle und liefert einen mimischen Parforceritt, der auch seinen zuvor schon recht ansehnlichen Ruf auf ein neues Level katapultiert. Zynisch bis zum Anschlag, schmeichelt, frotzelt, flucht und vögelt er sich den mit irrwitzigen Situationen gespickten Plot und ist sich auch nicht für die ausuferndsten Drogenexzesse nicht zu schade. Zur Identifikation taugt dieser aalglatte und nahezu dauerhaft zugedröhnte Geldhai zwar kaum, seinem diabolischen Charme kann man sich aber auch nur sehr schwer entziehen.
Bei all dem überbordenden Irrsin und der jegliches Maß überschreitenden Dekadenz erscheint es fast surreal, dass der reale Belfort mit seiner Geschäftsidee „lediglich" 200 Millionen Dollar umsetzte und an der eigentlichen Wall Street kaum mehr als eine Außenseiterrolle spielte. Gegen die Gordon Geckos der Hochfinanz ist Belfort lediglich ein kleiner Fisch, wenn auch ein sehr gefräßiger. Natürlich übertreiben Scorsese und sein fantastischer Autor Terence Winter (u.a. „Die Sopranos", „Boardwalk Empire") gnadenlos und auch wenn vieles angeblich eins zu eins aus der Autobiographie Belforts übernommen wurde, so darf zumindest deren Wahrheitsgehalt in Teilen angezweifelt werden.
Letztlich spielt aber auch das keine Rolle. Denn nie zuvor wurde die alles verschlingende Gier nach dem schnellen Geld und die sämtliche Regeln, Konventionen oder Sittlichkeiten aushebelnde Wirkungsmächtigkeit kurzfristiger Wahnsinnsprofite in solch ekstatischen Bildern und Dialogen auf die Leinwand geknallt. Das ist bestimmt nicht nach jedermanns Geschmack und auch - vorausgesetzt man denkt mit - definitiv keine leichte Kost.
In der heutigen gleichgeschalteten und biederen Mainstream-Kinolandschaft ist ein solch brachialer Querschläger andererseits eine überaus bereichernde Abwechslung. Die offenbar nur rudimentär vorhandene Gier nach guten und kontroversen Filmen abseits des Arthouse-Elfenbeinturms könnte so jedenfalls wieder entfacht werden. Das würden dann auch Jordan Belfort und sein Alter Ego Gordon Gecko unterschreiben. Schließlich ist Gier etwas Gutes, oder etwa nicht?