Gleich die ersten Einstellungen von Lantana, den Ray Lawrence nach sechzehnjähriger Spielfilmpause 2001 realisierte, werden von der schwülen Atmosphäre Sydneys getragen, die den restlichen Film bestimmen wird. Im scheinbar undurchdringlichen Gestrüpp, begleitet vom Summen und Zirpen unsichtbarer Insektenschwärme, bewegt sich die Kamera auf den leblosen Körper einer Frau zu. Ein blutiger Fuß, die zerrissene Strumpfhose, ihre Hand auf dem Rücken ruhend, ein Ehering sticht hervor. Ihr Gesicht wird nicht gezeigt. Sehr bald mag dem Zuschauer klar werden, dass es sich hier um eine Vorwegnahme eines noch kommenden tragischen Ereignisses handelt. Wenig später stehen zwei Frauen zur Auswahl und für einen kurzen Moment, in dem das Schicksal beider über der Tragödie zu schweben scheint, erscheint das Wort Suspense in dicken Lettern am Horizont. Doch Lantana ist kein reiner Krimi, denn Ray Lawrence nutzt das Sujet des potenziellen Verbrechens, um ein Netz von Paaren zu konstruieren und deren Beziehungen zu sezieren.
Anthony LaPaglia spielt den Polizisten Leon Zat, dessen harmonisches Familienleben aus den Fugen gerät als er seine Frau Sonja (Kerry Armstrong) mit Jane (Rachael Blake) betrügt. Sonja, die ahnt, dass ihr Mann ihr etwas verheimlicht, findet in der Psychiaterin Valerie (Barbara Hershey) ihren einzigen Gesprächspartner. Da an dieser Stelle eine Beschreibung aller Charaktere und ihrer zufälligen, wie nicht zufälligen Vernetzung zu einer nur für eine Filmanalyse nützlichen Inhaltsangabe führen würde, soll noch John (Geoffrey Rush) erwähnt werden, der mit Valerie verheiratet ist. Nach dem tragischen Tod der Tochter befindet sich ihre Ehe jedoch in einem bereits weit voran geschrittenen Verfallsprozess.
Die Grundbausteine des Regisseurs sind grob gesagt 6 Paare, davon 4 Ehen, die unterschiedliche Aufmerksamkeit erfahren. Sie sind in allen Gesellschaftsschichten zu finden, vom Professor, über den Polizisten, zum Arbeitslosen. Leon ist der einzige, der im Verlauf des Films auf fast alle anderen bedeutenden Charaktere trifft und damit mit ihren Lebensentwürfen und Beziehungen konfrontiert wird. Er ist zwar nicht die Hauptfigur, aber doch Fokus der Erzählung.
Dieser Leon ist kein Held. Abgesehen davon, dass er seine Frau hintergeht, übt er seinen Job nicht gerade gewaltlos aus und würde auch in The Shield eine gute Figur machen. LaPaglia macht stets den Eindruck, in jedem Moment an einem Herzinfarkt zu sterben oder die nächstbeste Tür eintreten zu wollen. Sein kränkliches, leicht depressives Äußeres und die unterschwellige Aggression (Diagnose: Selbsthass) stehen dem ruhigen, resignierten Geoffrey Rush gegenüber, der endlich einen unauffälligen Charakter spielt, jenseits der überlebensgroßen de Sades und Barbossas.
Lawrence versteckt sich nicht vor den großen Themen, welche die Lebenswege aller Charaktere zusammen und auseinander führen: Liebe, Verrat, Eifersucht, Trauer, Schuld, Vertrauen. Er schlussfolgert, dass Letzteres die Welt im innersten zusammenhält. Unerbittlich muss Leon die verschiedenen Phasen einer Beziehung anhand der Schicksale anderer mit ansehen. Die Frage, die im Raum steht, ist: Lernt er daraus oder ist es zu spät?
Lantana ist in seiner Grundeinstellung optimistisch, trotz all der menschlichen Dramen besteht für einige (nicht alle!) Charaktere die Möglichkeit zur aktiven Veränderung ihres Lebens. Die Motive und Hintergründe der Figuren werden, wenn überhaupt, nur angedeutet. Lawrence geht nicht den (im (Familien-)Drama nicht seltenen) Weg, gegen Ende ein paar Monologe einzubauen, welche dunkle Geheimnisse ans Tageslicht fördern. Wenn es zu einer Klärung der Vergangenheit einzelner Charaktere kommt, so geschieht dies meist beiläufig. Vieles bleibt dagegen im Dunkeln.
Lantana, das ist eine Pflanzenart, die in Sydney zu einer Vorortplage geworden ist. Für Lawrence ist sie das unheilvolle Sinnbild des Verborgenen, des Geheimnisses, des Unausgesprochenen. Die tote Frau liegt in jenen Sträuchern und so wie Leon das Verschwinden eben dieser Frau aufklären muss, so ist er dazu gezwungen sich mit sich selbst auseinander zu setzen. Ein zentraler Satz lautet: „Most men hold something back“.
Der Film wurde nicht zuletzt auf Grund des blumigen Titels mit Magnolia aus dem Jahr 1999 verglichen. Im Gegensatz zu Paul Thomas Anderson, ergeht sich Lawrence nicht in technischen Spielereien und hält sich mit möglichen Ablenkungen von der Story zurück. Das beginnt bei der alles verknüpfenden Gitarrenmusik, die nie die Geschwindigkeit und Lautstärke eines Aimee Mann Songs erreicht und endet bei der Kamera, welche zu einem Reißschwenk gar nicht in der Lage ist. Hier sei angemerkt, dass in Magnolia all diese Komponenten ihre Existenzberechtigung besitzen. Lantana ist allerdings reinstes Schauspielerkino, das beweist, dass gefühlsechte Stoffe keine Handkamera benötigen. Man kann nur hoffen, dass das aktuelle Werk des Regisseurs - Jindabyne - irgendwann in Deutschland zu sehen sein wird.
Es handelt sich hier um keinen Film für gutgelaunte Videoabende. Lantana sollte an einem Ort genossen werden, an dem ein Verweilen möglich ist. Wenn der Film läuft, wenn man nach dem Abspann da sitzt, rekapituliert oder einfach nichts tut, vor sich hin, in sich hinein starrt, dann ist man dankbar, das Exil gewählt zu haben.