Noch mehreren vielbeachten Dramen in seinem Heimatland Kanada gab man Regisseur Denis Villeneuve die Chance für ein US-Debüt – ein ganz beeindruckendes noch dazu.
Thanksgiving in der Kleinstadt: Keller Dover (Hugh Jackman) geht mit dem Sohn Ralph (Dylan Minette) Rotwild jagen, anschließend wird das geschossene Tier nach Hause gebraucht, ehe die beiden mit Ehefrau Grace (Mario Bello) und Töchterchen Anna (Erin Gerasimovich) zum Essen bei der Nachbarsfamilie Birch gehen, bestehend aus Vater Franklin (Terrence Howard), Mutter Nancy (Viola Davis) und den Töchtern Eliza (Zoë Soul) und Joy (Kyla Drew Simmons). Alles Routine, wenn die Eltern gemeinsam trinken, Ralph und Eliza hängen rum (und sind anscheinend ein Paar), während die beiden Jüngsten zusammen spielen – und irgendwann verschwunden sind. Ein unerwarteter Bruch inmitten all der Normalität, die Villeneuve da zeigt, wenn er seine Figuren sorgfältig einführt, die Exposition nie überhastet.
Während die Eltern außer sich vor Sorge sind, untersucht die Polizei den Fall unter der Leitung von Detective Loki (Jake Gyllenhaal). Der ist stets ruhig und spürt auch bald das verdächtige Wohnmobil auf, in dessen Nähe die Kinder spielend gesehen wurden. Am Steuer: Der geistig zurückgebliebene Alex Jones (Paul Dano), dem Loki allerdings nicht nachweisen kann und den er nach 48 Stunden wieder gehen lassen muss. Alex ist eine undurchsichtige Figur, hat man doch in Thrillern schon genug echte und gespielte Behinderungen gesehen, kann nie sicher sein, ob nicht auch hinter solch einer Figur Abgründe stecken oder ob er tatsächlich der verängstigte Junge ist, der gar nicht weiß wie ihm geschieht.
Als Keller eine verdächtige Äußerung von Alex hört, die aber niemand anderer mitbekommt, beschattet er diesen auf eigene Faust und entführt ihn. Mit Folter will er den Aufenthaltsort der verschwundenen Mädchen aus ihm herauspressen, während die offizielle Suche auf Hochtouren weiterläuft…
Zweieinhalb Stunden, das ist schon eine lange Zeit für einen Thriller mit übersichtlichem Figurenensemble, einer Handlungszeit von wenigen Tagen und einem Setting, das sich auf eine einzige Kleinstadt beschränkt. Doch Villeneuves Film ist keine Minute langweilig, sondern eine packende Spurensuche, bei der die Figuren allesamt Gefangene sind. Einige wortwörtlich, wie die entführten Mädchen oder der von Keller eingesperrte Alex, andere Gefangene der eigenen Obsessionen und Schwächen: Keller, der immer wieder erleben muss, dass Spuren von Alex wegdeuten, der sich aber fanatisch in die Einsicht steigert, dass dieser der Täter sein muss und er das durch verstärkte Folter beweisen kann, oder Grace, die sich mit Medikamenten abschießt um den Verlust ihrer Tochter zu verwinden. Natürlich schwingt in Kellers Folterhandlungen auch mal wieder der seit Abu Ghuraib und Guantanamo beliebte Diskurs mit ob der Zweck die Mittel heiligt, wobei Villeneuve diese Fragen erfreulich gut in den Filmverlauf einbindet, keine dröges Themenkino daraus macht oder zu dozieren beginnt.
Wobei dies auch dem famosen Drehbuch von Aaron Guzikowski anzurechnen ist, welches mit minutiös genauem Timing Spannungsbögen aufbaut und doch vollkommen organisch wirkt: Wenn verschiedene Details den Eindruck erwecken, dass die Kleinstadt eine primäre Anlaufstelle für Perverse und Serienmörder ist, dann werden all diese Andeutungen am Ende miteinander zu einem logisch nachvollziehbaren, nicht übertriebenen oder absurden Großen und Ganzen zusammengebaut. Alle Fäden laufen zusammen, jedes Detail ist wichtig, alle Figuren und Zusammenhänge lassen sich am Ende aus der Geschichte heraus klären. Das Ende ist leicht offen, lässt in der einen oder anderen Hinsicht Raum für eigene Interpretationen, aber ist dennoch komplett befriedigend, regt eben zu eigenen Gedanken und nicht zum verdutzten Stirnrunzeln an.
Tatsächlich sind es Dinge, welche „Prisoners“ nur andeutet, die den Film nur spannend machen, gerade auf den idealistischen, unterkühlten Cop Loki bezogen: Gleichzeitig an mehreren Stellen tätowiert und doch ein Anzugträger, ohne sichtliches Privatleben, ohne Offenlegen, was diesen Mann antreibt. Dem gegenüber steht Keller, ein gottesfürchtiger, auf alles vorbereiteter Handwerker, der im Keller einen Schutzraum für Katastrophen, inklusive gehorteter Vorräte hat. Der seine handwerklichen Kenntnisse für kreative Foltermethoden einsetzt, wenn er nicht weiter weiß, der impulsiv, aber auch clever ist, sodass er die Entführung eines Verdächtigen durchziehen kann ohne dabei aufzufliegen. Die rätselhafte und die ausbuchstabierte Figur sind die Protagonisten des Films, gleichsam mit- wie auch gegeneinander arbeiten sie, denn auch Keller überschreitet irgendwann nicht nur moralische, sondern auch juristische Grenzen; wäre also selbst dann schuldig, wenn seine Tochter aufgrund seiner Foltermethoden gefunden würde.
Langsam, mit unglaublicher Sogwirkung zieht „Prisoners“ in seinen Bann, trotz kleiner Makel wie etwa der Frage *SPOILER* warum die Polizei am Ende das ganze Grundstück des Täters umgräbt, aber noch nicht auf die Idee gekommen ist mal die alte Karre beiseite zu bewegen *SPOILER ENDE*. Dass diese kaum auffallen, liegt an der düsteren, trostlosen Stimmung des Films, wunderbar eingefangen von Roger Deakins‘ Kameraarbeit: Es ist ein regnerischer, grauer Herbst, die Stadt schmucklos, die Kleidung der Leute schlicht und funktional. Und noch schlimmer sind die Abgründe, die überall lauern können. Familienväter, die entweder foltern oder derartiges zumindest tolerieren, in der Hoffnung, dass die eigene Tochter gefunden wird; Sexualstraftäter, die Loki im Zuge seiner Ermittlungen aufsucht, von denen einer wortwörtlich eine Leiche im Keller hat; ein Polizeiapparat, der trotz fähiger Leute wie Loki auch Fehlentscheidungen trifft, welche manche Katastrophe überhaupt erst ermöglichen.
Natürlich lebt „Prisoners“ auch von seinen Hauptdarstellern: Jake Gyllenhaal als rätselhafter Cop gibt Loki eine Aura von Kompetenz und geheimnisvoller Zurückhaltung, die schier unglaublich ist, während Hugh Jackman als bis zum Äußersten gehender Familienvater wunderbar den Zwiespalt der Figur verkörpert, die nur Gutes will, die mit der Folter gegen eigene religiöse Prinzipien verstößt und doch von der Richtigkeit des eigenen Tuns überzeugt ist. Nachwuchstalent Paul Dano verkörpert den zurückgebliebenen, aber ebenfalls undurchsichtigen Alex beeindruckend, während der famos besetzte Supportcast aus Terrence Howard, Mario Bello, Viola Davis und Melissa Leo ebenfalls durch die Bank weg überzeugt.
„Prisoners“ zeigt eindrucksvoll wie unheimlich gut ein klassischer Thriller sein kann, bei dem jedes Puzzleteilchen am Ende passgenau ineinandergreift, ohne dass das Ganze überkompliziert wäre, sondern sinnvoll und konsequent logisch alle Figuren und Zusammenhänge erklärt. Noch dazu ist er ein famoses Drama über Familienwerte, Verzweiflung und den Moment, in dem man das Zivilisierte hinter sich lässt, grandios gespielt, beeindruckend gefilmt und atmosphärisch dicht.