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Für Eltern kann es kaum etwas Schlimmeres geben, als das plötzliche Verschwinden ihrer Kinder. Die Ungewissheit, was mit ihnen passiert sein könnte, die zunächst radikal verdrängte, aber mit zunehmender Dauer langsam hervorkriechende Befürchtung, sie könnten einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein, gepaart mit einer völligen Hilflosigkeit und Ohnmacht angesichts der auf fremden schultern lastenden Verantwortung und Organisation der Suche, ist eine emotionale Extremsituation von der sich die Beteiligten - selbst bei einem positiven Ausgang - in den allermeisten Fällen ihr Leben lang nicht mehr erholen.

Denis Villeneuve hat aus diesem albtraumhaften Szenario ein vielschichtiges, bedrückendes und zutiefst finsteres Charakterdrama geformt, das lange nachwirkt und eine Reihe unbequemer Fragen aufwirft. Wie würde man reagieren, wenn der schnell verhaftete Hauptverdächtige mangels stichhaltiger Beweise bereits nach einem Tag wieder freigelassen wird? Würde man - wie der Vater Keller Dover (Hugh Jackman) im  Film - dem vermeintlichen Täter (Paul Dano) auflauern, ihn in ein verlassenes Gebäude verschleppen und dort so lange foltern, bis er gesteht, oder irgendeinen brauchbaren Hinweis liefert? Würde man als bester Freund (Terrence Howard) des Folterers versuchen ihn aufzuhalten, wenn die eigene Tochter ebenfalls entführt wurde?

Natürlich denkt man bei dieser Konstellation und einer amerikanischen Produktion reflexartig an 9/11 und Guantanamo. Auch die nie enden wollenden Fälle vermisster Kinder sprechen für Aktualität. „Prisoners" ist aber nicht nur ein Film über Folter, Selbstjustiz und Kindesentführung, „Prisoners" ist auch ein Film über Religion, oder besser Religiosität.
Schon zu Beginn erklingt das Vater Unser, Keller Dover spricht es leise und eindringlich, kurz bevor sein 17-jähriger Sohn sein erstes Rotwild erlegen wird. Der Schöpfer ist allgegenwärtig in Dovers Denken und Handeln, wobei sehr schnell deutlich wird, dass seine Auslegung der Bibel klar altestamentarisch ist. Auge um Auge entspricht weit mehr seiner Philosophie, als das Hinhalten der anderen Wange. Sein Gott ist der strafende und rächende, nicht der liebende und fürsorgliche. Für das Wohlergehen seiner Familie fühlt er sich ganz allein verantwortlich. „Sei immer bereit" lautet sein mantramäßig vorgetragenes Credo. Deshalb gleicht sein Keller auch dem Vorratsraum eines Atombunkers.

Für diesen prinzipienfixierten Kontrollfreak ist die durch die Entführung seiner Tochter hervorgerufene totale Hilflosigkeit ein brutaler Angriff auf sein Selbstbild und folgerichtig nur durch Aggression zu bewältigen. Der mögliche Tod seines Kindes wäre nicht nur die maximal erfahrbare emotionale Tragik eines Vaters, sondern auch das Versagen in der von ihm völlig absorbierten aktiv gelebten Rolle als Beschützer und Bewahrer des Familienglücks. Hugh Jackman zeigt in dieser schwierigen Rolle weit wehr als die schon seiner Paraderolle als Wolverine innewohnende, aggressive Wut. Man spürt auch die Verzweiflung, Angst und gewaltsam unterdrückte Ohnmacht angesichts der unvermittelt hereingebrochenen Tragödie.
Als Zuschauer ist man hin- und hergerissen zwischen Sympathie und Ablehnung. Der Film bietet dabei wenig Unterstützung. Dovers Vorgehen ist brutal und abstoßend, andererseits scheint der Verdächtige in irgendeiner Form in das Verbrechen verwickelt und die polizeilichen Ermittlungen verlaufen eher schleppend. Die letztendliche Relevanz der Folter für die Aufklärung des Falles macht die Bewertung von Dovers Handlungen noch vertrackter und zwiespältiger.

Dovers Widerpart ist der ermittelnde Detective Loki. Zwar verfolgt er dasselbe Ziel, geht dabei aber mit gänzlich anderen Methoden zu Werke. Er versucht ein Puzzle zu lösen und dabei mehrgleisig zu fahren. Loki verfolgt mehrere Spuren und es ist erstaunlich, wie viele davon am Ende in die richtige Richtung weisen. Während Dover wie ein verwundetes Raubtier durch das Indizien-Unterholz pflügt, ist Loki der abwartende Beobachter. Ein Beobachter der erst mal Witterung aufnimmt um dann im entscheidenden Augenblick blitzschnell zuzupacken. Jake Gyllnahh verkörpert diesen durch das Böse der menschlichen Natur desillusionierten Ermittler nicht minder eindringlich wie Jackmann den um sich schlagenden Vater. Tiefe Augenringe, bedächtige Gesten und ein betont sanfter Tonfall sind nur teilweise ein Ausdruck der Desillusion, sie maskieren auch geschickt den wahnhaften Ehrgeiz und die unter der passiven Oberfläche schlummernde Aggressivität gegenüber den Verbrechern.

Die den ganzen Film über herrschende, zutiefst bedrückende Atmosphäre ist auch ein Verdienst von Roger Deakins. Der mehrfach prämierte Kameramann beweist hier wieder mal sein Gespür für nachhaltige Bilder und taucht die Kleinstadt in ein verwaschenes, wolkenverhangenes grau, bei dem es entweder in Strömen regnet, oder die kalte Feuchtigkeit aus allen Poren zu dringen scheint. Bei so viel Schlechtigkeit - so die deutliche visuelle Botschaft - will auch der Himmel nicht mehr lachen und zeigt sich von seiner unfreundlichsten Seite.

Mit dem Entführungs-Thriller „Prisoners" zeichnet der kanadische Regisseur Denis Villeneuve ein zutiefst pessimistisches Bild von der menschlichen Natur und wählt dazu das Setting der amerikanischen Kleinstadtgesellschaft. Das Böse lauert hier buchstäblich überall und wird keineswegs lediglich von außen in ein bestehendes Idyll hineingetragen. Polizist Loki ist sich dessen längst bewusst, die von seiner Umwelt offensiv zur Schau getragene Religiosität ist ihm nicht zuletzt deshalb fremd. Die Auswüchse des Falles dürften ihn in dieser Haltung nur noch bestärken.
Die lange Laufzeit von weit über zwei Stunden macht die zermürbende Erfahrung für den Zuschauer noch spürbarer. Dank einer clever konstruierten Story und einer Reihe von geschickt platzierten Tempoverschärfungen ist „Prisoners" trotz seiner bleiernen Schwermütigkeit ungemein fesselnd und spannend. Ein unangenehmer, unbequemer Film, zweifellos, aber gerade deswegen ein  noch lange nachwirkender.

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