Man stelle sich vor, der Alptraum einer Kindesentführung bliebe nicht ein letztlich abstrakter und vorübergehender Schrecken beim morgendlichen Zeitungsaufschlagen, sondern fände tatsächlich seinen Weg in den noch kurz zuvor heimeligen Vorgarten und ins persönliche Familienglück. Nicht auszudenken, vor allem nicht für die Eltern unter uns. Welches unermessliche Leid müssen wohl die bemitleidenswerten Väter und Mütter in solchen Fällen erdulden, welche enormen emotionalen Strapazen stemmen und wie gewaltig sind die Risse, die eine solche Tragödie in den eigenen Schutzwall aus konditioniertem Optimismus und bewährt durchs Leben tragenden Maximen reißt? Eine Frage rhetorischer Natur. Man würde als betroffenes Elternteil vermutlich alles tun und alles geben, um sein Ein und Alles wiederzubekommen. Das wäre nur menschlich. Ebenso gattungsspezifisch wäre es auch, die bisher geltenden Regeln und zuvor beachteten Werte über Bord zu werfen, sähe man denn eine Chance, dadurch den Schmerz abzustellen. Und genau die sieht Hugh Jackman als Vater. Und er geht soweit es nötig ist.
Es geschieht und es geschieht wie immer unerwartet. Die zwei kleinen Mädchen der befreundeten Ehepaare Dover (Hugh Jackman/Maria Bello) und Franklin (Terrence Howard/Viola Davis) ziehen während der gemeinsamen Thanksgiving-Feier nachmittags kurz los, um aus dem elterlichen Nachbarhaus eine Trillerpfeife zu holen. Und sie kommen nicht wieder. Die Polizei wird augenblicklich informiert und ist in Person von Detective Loki (Jake Gyllenhaal) mit ihrem besten Mann vertreten. Ein Verdächtiger ist auch schnell gefunden, denn der verhaltensgestörte Alex (Paul Dano), der zur Tatzeit mit seinem Wohnmobil vor Ort in der Straße war, verhält sich nicht eben unverdächtig. Doch der anfängliche Verdacht erhärtet sich insofern nicht, als dass keine Spuren der entführten Kinder in seinem Fahrzeug auffindbar sind. Loki muss den geistig behinderten Mann schweren Herzens laufen lassen. Nicht so der verzweifelte Vater des jungen Dover-Mädchens. Der hat seine guten Gründe, den ihm bei einer kurzen Rangelei Verdächtiges ins Ohr flüsternden Alex weiterhin der Entführung seiner Tochter zu beschuldigen und nimmt das Gesetz in die eigenen Hände. Er entführt den unsympathischen Widerling und beginnt ihn zu foltern. Doch wie weit ist er als eigentlich anständiger und von solchen Methoden angewiderter Mensch bereit, die Vergangenheit mit ihren Grundsätzen hinter sich zu lassen und neue, unvermeidlich ins Dunkle führende Wege zu gehen, um sein kleines Mädchen wieder zu bekommen? Und ist Alex überhaupt absolut zweifelsfrei der Täter?
Ein solches Szenario schreit geradezu nach sauberer, nicht gekritzelter Federführung, was filmisches Wirkungspotential und mediale Wirkungsabsicht anbelangt. Wir meinen als routinierte Konsumenten wie gewohnt formulierbare Botschaften und nicht kodierte Parteinahme serviert zu bekommen. Doch ungeachtet seines Schwanengesangs auf die Folter lässt Regisseur Denis Villeneuve unverhofft alle Erwartungshaltung ins Leere laufen. Mit Fingerspitzengefühl und großer Liebe zum authentischen Detail inszeniert er einen Thriller, der zwar lang, aber nie langweilig, der feinfühlig, aber nicht zartbesaitet, der diskussionswürdig, aber salonfähig ist. Zu keinem Zeitpunkt verliert sich Villeneuve in Unwichtigem oder ergänzt mit Vorgefertigtem. Er nutzt das große mimische Potential seiner Darsteller geschickt aus, um ein beklemmendes Drama ins Werk zu setzen, das stets Augenmaß hält bei seinem durch das Leid anderer erzeugtem Unterhaltungswert. Diesem Vorhaben gemäß bebildert er Trauer oder Gewalt nie selbstzweckhaft, sondern erhebt den unbedingten Anspruch, die triste Komplexität der echten Welt da draußen in seine Geschichte überzeugend und unausblendbar zu integrieren. Die unerwartete Auflösung dürfte, auf ihren Realitätsbezug hin abgeklopft, zwar wahrlich nicht ganz alltäglich sein, doch lesen wir eben keine Zeitung, sondern sitzen immer noch im Lichtspielhaus. So sehr man das auch bei Villeneuves Film schleichend vergisst.
Es ist beinahe ein Segen, dass das Kino von Zeit zu Zeit beweist, dass seit Jahrzehnten ausgetretene Pfade verlassen und neue Akzente in den respektiven Genres gesetzt werden können. Und sei es nur dadurch, statt griechischem Drama hyperrealistisch zu inszenieren und damit dem Zuschauer die bequeme Sicherheit zu nehmen, doch nur Theater zu sehen. Auch wenn aufgrund des kommerziellen Hintergrunds eines solchen Produkts immer eine spannende Geschichte erzählt werden wird, die Möglichkeit, sich auch als gewinnorientierter Filmemacher qualitativ selbst zu verwirklichen, ist (immer noch) da. Nur wollen muss man. So wie man hier will. Ohne wohlige Schuldzuweisungen oder inszenatorische Besserwisserei fesselt „Prisoners" bei einer leichten Überlänge von 153 Minuten seit längerer Zeit mal wieder die ganze Zeit. Motive und Handlungsmuster der Akteure sind vollends nachvollziehbar und überzeugen auf beinahe beunruhigende Weise. Musikuntermalung und Dialoge tun ihr Übriges, den Filmgenuss stimmungsvoll abzurunden. Villeneuves Thriller ist nicht nur ein spannend erzähltes Drama, er ist auch eine ambitionierte Analyse, ein unverstellter Blick auf die Natur des Menschen.