Review

Wie sagte Peter Greenaway einmal so treffend (sinngemäß):

"Der Film bietet viel zu viele Möglichkeiten als dass man ihn nur den Geschichtenerzählern überlassen sollte."

Helène Cattet und Bruno Forzani belegen diese These nach dem grandiosen AMER auch mit ihrem zweiten langen Spielfilm auf eindrucksvolle Weise. Die Handlung, sofern man überhaupt von einer sprechen kann, bietet nichts weiter als den Rahmen für ein filmisches Spiel gegen alle visuellen und erzählerischen Konventionen.

Ein Mann kommt von einem Business-Trip nach Hause. Doch niemand antwortet auf seine Telefonanrufe, niemand erwartet ihn an der Tür. Er bemerkt, dass sie von innen verschlossen ist, ruft nach seiner Frau, doch wieder keine Antwort.  Auch seine erste hektische Suche in dem weitläufigen Jugendstil-Gebäude führt zu keinem Ergebnis. Alles scheint verlassen.

Von da an gleitet der Film zunehmend ab in einen dunklen Alptraum, Zeit-, Realitäts-, Identitätsebenen verschieben und vermischen sich. Der Protagonist trifft verschiedene Bewohner des Hauses, ehemalige und aktuelle, reale und ... surreale, doch keine dieser Personen kann sein Martyrium zu einem Ende führen.

Wie die Hauptfigur verheddert sich auch der Zuschauer in einem unauflösbaren Labyrinth von Hinweisen, Zeichen, Symbolen, die man, ähnlich wie in Sion Sonos STRANGE CIRCUS nie sicher interpretieren kann. Und gerade das verleiht dem Film, neben seiner Sinnlichkeit, auch eine herausfordernde intellektuelle Note.

Die von AMER bekannte Bildsprache, die von leise bis unerträglich laut changierende Tonspur, die Musik mit einer Vielzahl klassischer Beiträge von Bruno Nicolai und Ennio Morricone sowie der virtuose Schnitt machen L'ETRANGE COULEUR DES LARMES DE TON CORPS zu einem immens spannenden, geradezu rauschhaft animierenden audiovisuellen Erlebnis. Erneut ein Experimentalfilm für alle Sinne (was streng genommen fast ein Widerspruch ist). Und wer dabei einschläft, hat es auch nicht besser verdient.

10/10

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