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„Ich habe mich nackt ausgezogen, um auf einen Baum zu klettern. Meine bloßen Schenkel berühren die glatte, feuchte Rinde. Meine Sandalen wandern über die Äste. Ganz hoch oben und doch noch unter dem schützenden Dach der Blätter, im Schatten der Hitze der Nacht ließ ich mich auf ein Pferd gleiten, auf die mächtige Gabelung eines Astes und meine Füße balancieren im Nichts.“

Nach der Dokumentation „Hildegard Knef und ihre Lieder“ debütierte der britische Aktfotograf David Hamilton („Zärtliche Cousinen“) im Jahre 1977 im Spielfilmbereich mit dem in französisch-italienischer Koproduktion entstandenen Kassenschlager „Bilitis“. Das Coming-of-Age-Erotikdrama basiert auf einem Drehbuch Catherine Breillats, das wiederum eine freie Adaption des Gedichtbands „Lieder der Bilitis“ des Dichters Pierre Louÿs aus dem Jahre 1894 darstellte.

„Es hat geregnet. Wassertropfen fallen und rollen an meinem Köper, meiner Haut herunter. An meinen Händen hängen Fasern von Moos und meine Zehen sind rot von zertretenen Blumen. Ich fühle das Leben in dem wunderbaren Baum, wenn der Wind leise durch ihn hindurchstreicht. Ich presse meine Beine noch mal zusammen, lehne mich ganz weit vor und hefte meine geöffneten Lippen auf den behaarten Nacken eines Zweiges.“

Die Internatsschülerin Bilitis (Patti D'Arbanville, „Flesh“), zarte 17 Jahre jung, verguckt sich in den Fotografen Lucas (Bernard Giraudeau, „Die perfekte Erpressung“), verbringt ihre Sommerferien jedoch an der Côte d’Azur bei ihrer erwachsenen, verheirateten Freundin Melissa (Mona Kristensen). Nachdem sie Zeugin wurde, wie Melissas Ehemann Pierre (Gilles Kohler, „Ein irrer Typ“) seine Frau vergewaltigt, lassen sich Bilitis und Melissa auf eine gleichgeschlechtliche Affäre miteinander ein. Diese beendet Melissa jedoch nach kurzer Zeit wieder, um mit Bilitis‘ ursprünglichem Schwarm Lucas anzubändeln, was Bilitis akzeptiert. Etwas verwirrt, alleinstehend, jedoch um libidinöse Erfahrungen reicher kehrt Bilitis in ihr Internat zurück.

„Ich geniere mich ein bisschen.“

Am berüchtigsten war Hamilton für seine Aktfotografien prä- bis frühpubertierender Mädchen, die zu ihrer Veröffentlichungszeit mangels Problembewusstsein jedoch lediglich in generell reaktionären, prüden, natürlichkeits- und sexualitätsfeindlichen Kreisen wie denen der Kirche auf Kritik stießen. Mit „Bilitis“ hat das zunächst einmal nicht allzu viel zu tun, da die Hauptdarstellerin eine bereits 17-Jährige spielt und damals selbst bereits Mitte 20 war. Hamiltons fotografischer Stil jedoch wurde auf den Film übertragen: Das Bild wird vom Weichzeichner und von Pastelltönen dominiert und zeigt mit Vorliebe leicht- oder unbekleidete Mädchen und junge Frauen in einem in der Gegenwart angesiedelten, jedoch jeglicher Realität entrückt scheinendem Ambiente aus Prunk und hyperidyllischen Landschaften, das dem Film etwas Traumwandlerisches verleiht. Daran großen Anteil haben auch die dick auftragenden Synthesizer-Melodien Francis Lais, die ihrerseits von den Bildern zu schwelgen scheinen und jegliche Ecken und Kanten ablegen, um in einem warmen Strudel gefangenzunehmen.

Die schnell nacherzählte Handlung hat lediglich Alibicharakter für Szenen voller Zärtlichkeit, die im Kontrast zum brutalen Vorgehen Pierres stehen. Nichts ist hier anschließend mehr vulgär oder obszön, womit „Bilitis“ einen Gegenpol zu Softsex-Schmuddel, den verklemmten Albereien so vieler Nackedei-Komödien, aber auch zu Anspruch und Härte manch weniger poetischen Erotikdramas bildet. Die Erotikszenen sind wahrlich großes Kino und überaus ästhetisch; Hamilton verstand sein „Handwerk“, das hier zweifelsohne zur Kunst wird, ganz eindeutig. Andererseits ist „Bilitis“ aber auch unfassbar harmlos, eigentlich in keinerlei Hinsicht provokant, erhellend oder in sonstiger Weise über seinen erotisch-ästhetischen Gehalt und seine Bildgewalt hinaus anregend. Die arg naiv gezeichnete Bilitis, die ihre Erlebnisse bisweilen aus dem Off kommentiert, ist ein weitestgehend eigenschaftsloser Platzhalter für aufkeimendes sexuelles Bewusstsein, für ein Mädchen, das seine Gefühlswelt gerade erst erkundet und sich von ihr treiben lässt, das erste leidenschaftliche Erfahrungen macht. Ferner scheint sie eine Art Katalysator- oder Durchlauferhitzerfunktion für die sich anbahnende Beziehung zwischen Melissa und Lucas einzunehmen. Als stiller Voyeur spielt Mathieu Carrière („Parapsycho – Spektrum der Angst“) am Rande gar eine noch eindimensionalere Rolle.

Der Sinnlichkeit am Rande zum Kitsch und Harmlosigkeit seines Films zum Trotz sah sich Hamilton jedoch aufgrund seiner eingangs genannten fotografischen Obsession zunehmend zumindest nachvollziehbaren Pädophilie-Vorwürfen ausgesetzt. Diese gipfelten in konkreten, von Hamilton jedoch abgestrittenen Vergewaltigungsvorwürfen mehrerer ehemaliger minderjähriger Fotomodelle, die kurz vor seinem Tod durch Suizid im Jahre 2016 publik wurden. Dies hinterlässt ein sehr unangenehmes Gefühl bei der Auseinandersetzung mit seinem Œuvre und stimmt nachdenklich.

Francis Lais Soundtrack indes verkaufte sich zigtausendfach und begann mit seinem Einzug in die bürgerlichen Haushalte ein vom Film unabhängiges Eigenleben zu entwickeln. Ein Kuriosum, das sich eventuell mit den diversen realen Härten seiner Entstehungszeit erklären lässt: Offenbar befriedigte er ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Harmonie und Eskapismus.

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