MONDO CANNIBALE
Der englische Fotograf John Bradley bereist die Metropolen Thailands, um eine Dokumentation über die Menschen und ihre exotische Kultur zu erarbeiten. Nach einer Rangelei in einer Bar mit einem Trunkenbold verletzt Bradley diesen unabsichtlich, aber tödlich. Er flüchtet in die abgelegenen Gebiete des Nordens nahe der thailandisch-birmesischen Grenze, fernab vom Großstadttrubel. Gemeinsam mit seinem ortskundigen Reisebegleiter Chuan mietet er ein Boot und fährt stromaufwärts in kaum erforschte Regionen, wo er sich tagelang mit Aufnahmen einer intakten und scheinbar unberührten Tier- und Pflanzenwelt die Zeit vertreibt. Eines Morgens wird die Idylle jäh unterbrochen, als Bradley von Jägern eines Eingeborenenstammes überfallen und gefangen genommen wird; Chuan findet dabei den Tod.
Wegen seines blonden Haares und dem Taucheranzug wird Bradley zunächst irrtümlich als „Fischmensch“ in einem Netz gehalten. Ein paar Tage später fristet er sein Dasein in einem Käfig und wird schließlich zur Sklavenarbeit herangezogen. Dabei erweckt der Sonderling die Aufmerksamkeit von Marayå. Aber als Tochter des Stammesvorstehers Lahuna ist sie schon dem tapferen Krieger Karen versprochen. Dieser bemerkt Marayås Interesse an dem Fremden und stellt Bradley bei einem missglückten Fluchtversuch zum tödlichen Zweikampf. Bradley obsiegt und nimmt nach einer schmerzhaften Aufnahmeprüfung den Karens Rang ein. Von nun an als Stammesmitglied respektiert, passt er sich dem Dorfleben an, lernt mit Mühe die Sprache und den zwangsläufigen Verzicht auf Rückkunft in die ihm vertraute Zivilisation. Leichter fällt es Bradley, als er die Gunst Marayås gewinnt und bei einem Heiratsritus von ihr als Ehemann erwählt wird. Für das frisch vermählte Paar folgt eine wochenlange Glückseligkeit, die mit der Schwangerschaft ihren Höhepunkt erreicht.
Kurze Zeit darauf werden zwei Dorfbewohner von den Kurus, einem kriegerischen Kannibalenstamm, angegriffen und getötet. Unter Bradleys Führung wird Vergeltung geübt, und es gelingt ihnen, die Feinde vorübergehend in die Flucht zu schlagen. Doch der Frieden währt nicht lange. Denn eines frühen Morgens greifen die Kannibalen das Dorf an, brennen es fast vollständig nieder und töten viele Bewohner. Die Überlebenden flüchten weiter flussaufwärts, wo die inzwischen an einer unheilbaren Augenkrankheit erblindete Marayå ihr Kind zur Welt bringt. Die Krankheit und die Anstrengung sind jedoch zu viel, und entkräftet verstirbt sie in Armen ihres Mannes. Nach einer kurzen Trauerzeit entscheidet Bradley sich dazu, das Dorf wieder aufzubauen und als neuer Führer dieses Volkes der Zivilisation endgültig den Rücken zu kehren.
DER MENSCH IST DEM MENSCHEN EIN WOLF
Das italienische Kino war selten so von den „äußeren“, gesellschaftlichen Zuständen beeinflusst, wie in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die Zeiten prachtvoller Optik in unzähligen Kostümfilmen waren vorbei, ebenso die phantasiereichen Materialschlachten zwischen Römern und griechischen Göttersprösslingen in ausladenden Sandalenfilmen, als auch die staubigen Pistolen-Duelle Ikonen gleicher Antihelden in den Italowestern; und der klassische, gotische Horrorfilm machte unter den Anstrengungen, nicht der Tendenz von ansteigendem Interesse an expliziter Erotik und Gewaltdarstellung anheim zu fallen, seine letzten Atemzüge. Das Publikum war schockiert und gleichzeitig fasziniert von dem Sensationalismus der Regenbogenpresse und illustrierten Zeitungen ob der ansteigenden Kriminalitätsrate, die die Filmindustrie mittels harter Thriller, Gangster- und Polizeifilme mit einem erheblichen Grat an Unterhaltungswert zu verarbeiten suchte. Einer der namhaftesten Regisseure dieser Filmgattung ist Umberto Lenzi, der bereits in den 60er Jahren an sämtlichen populären Genres partizipierte. Der Durchbruch gelang ihm 1972 mit dem vorliegenden MONDO CANNIBALE, der sich formal an die sogenannten „Mondo“-Filme Gualtiero Jacopettis und Franco Prosperis orientiert. Diese filmischen Nervenkitzel über menschliche Abnormitäten in einem dokumentarischen Schema waren zu ihrer Zeit Kassenmagnete und beleuchteten insbesondere in den Ländern der „Dritten Welt“, die man heute eher Entwicklungsländer nennt, Rassenunruhen und Kriegsszenarien mit all den unmenschlichen Verhaltensweisen, die dazu führten bzw. daraus resultierten.
Angesichts dieser auf Zelluloid gebannten Abscheulichkeiten war auch das Interesse am Kannibalismus aufgeflammt. Hielt man das in unserer aufgeklärten Welt für rassistische Geschichtsverfälschungen seit Columbus, so steuerten fundierte Erkenntnisse in Etymologie, Anthropologie und Kriminologie etwas dagegen, in dem sie vom religiösen und rituellen, als auch von der Not diktierten und psychopathischen Kannibalismus berichteten. Das reißerische Augenmerk der „Mondo“-Filmer fiel in diesem Zusammenhang auf primitive Urvölker in vermeintlich unerforschten Gebieten, also in den Urwäldern Afrikas, Südostasiens und Südamerikas, samt ihrer als barbarisch verkauften Riten. Diese „Tatsachenberichte“ waren zynische, mit jeder erdenklichen Extremität und Ekelei ausgeschmückte Bestandsaufnahmen der Gegenwart, die, wenn notwendig, auch nachgestellte Szenen als reales footage verkauften, zumal in sogenannten „Shockumentaries“ à la GESICHTER DES TODES.
EIN MANN, DEN SIE FISCH NANNTEN
Vor diesem Hintergrund verfasste das Autorengespann Francesco Barilli und Massimo D’Avak ein Drehbuch, das sich wesentlich an der Geschichte von Elliot Silversteins erstklassigen Western EIN MANN, DEN SIE PFERD NANNTEN aus dem Jahr 1970 orientiert. Nur tauschte man als Schauplatz die amerikanische Prärie gegen den Dschungel Thailands, und die Indianer einfach gegen primitive Ureinwohner aus – ein Teil davon mit kannibalischen Essgewohnheiten. In die Fußstapfen Richard Harrisons tritt Ivan Rassimov, auch bekannt unter dem Pseudonym Sean Todd u. a. aus Mario Bavas gruseligem Science-Fiction-Trip PLANET DER VAMPIRE (1965), dem Western DJANGO – KREUZE IM BLUTIGEN SAND (1967) oder an der Seite von George Hilton und Edwige Fenech in Sergio Martinos Thriller DER KILLER VON WIEN (1971). Als Abenteuer suchender Fotograf, der von den Ureinwohnern gefangen genommen wird, sich ihren Sitten und Bräuchen anpassen muss, um ein akzeptiertes Stammesmitglied zu werden, und schließlich die Tochter des Häuptlings ehelicht und sich zum Anführer der Volksgemeinschaft mausert, widerfährt ihm das gleiche Schicksal, wie das seines amerikanischen Vorbilds. Umberto Lenzi behauptet hingegen, dass die Story nach Motiven der Schriftstellerin Emmanuelle Arsan, die mit ihren „Emmanuelle“-Romanen erotische Bestseller schrieb, entstanden sei; als gebürtige Thailänderin wusste sie angeblich viele Details über die Sitten der Eingeborenen.
Auch diese Geschichte fokussiert die Überlegenheit des „Weißen“ gegenüber den „Wilden“ in wesentlichen Zügen. Rassimov bändigt nicht nur den eifersüchtigen Kontrahenten und kann somit um die Gunst der „freigewordenen“ Häuptlingstochter buhlen, sondern er vermag auch mit erfolgreichen Erst-Hilfe-Maßnahmen krebsroten Neid in das Gesicht des Medizinmannes zu zaubern, und sein technisches Know-how ist förderlich für die Ausbesserung und Erweiterung des Dorfes. Selbst in der Liebe zeigt Rassimov sich auf der Höhe. In einer Berührungszeremonie muss die zuckersüße Me Me Lai ihren zukünftigen Gatten mit verbundenen Augen wählen. Während seine Nebenbuhler instinktiv Brust und Scham begrabschen, streichelt Rassimov zunächst ihre Schulter, dann den Arm entlang und schließlich legt er seine Hand in die ihre. Zwar leistet Zärtlichkeit bessere Dienste, um das Herz einer Frau zu erobern, aber hinterher wird genauso gevögelt, als gebe es kein Morgen. Kommentiert wird das mit einer süffisanten Bemerkung Rassimovs über Lais Liebesbekundungen: „Nein, Marayå, du denkst, dass du mich liebst. Du hast nie gelernt, was Liebe wirklich bedeutet.“
Sexualität spielt in MONDO CANNIBALE eine entscheidende Rolle. Nackte Tatsachen stehen auf dem Tagesplan „wilder“ Attraktion, genauso wie es der Filmtitel propagiert. Eingeborene tragen keine Kleidung – ein Motto, das nicht nur Umberto Lenzi lehrt. Das weiß man schon aus etlichen vorausgegangenen Dschungelfilmen. Der lächerliche Vorwand, sich prinzipiell auf „natürliche“ Exotik zu stützen und nicht auf erotisierende Zurschaustellungen, war seit jeher eine zweckdienliche Rechtfertigung gegenüber der Zensur und feministischen Anschuldigungen. Betrachtet man spätere Beiträge dieser Filmgattung, insbesondere NACKT UNTER KANNIBALEN (1977) von Aristide Massaccesi, muss man Lenzi sogar zugestehen, dass seine Darstellung noch recht zurückhaltend ist. Nicht ganz unschuldig daran dürften auch die teilweise kitschig wirkenden, romantischen Momente sein, in denen Ivan Rassimov und Me Me Lai wie lüsterne Teenager herum albern und „Fang mich“ spielen.
Viel stärker als die Sexualisierung der „Wilden“ ist die Darstellung ihrer Riten: Bestrafenswürdige Vergehen und Überschreitungen der Stammesgesetze werden mit dem Herausschneiden der Zungen geahndet, ein Verstorbener wird verbrannt und die Witwe in der Asche von allen jungen Männern begattet. Der tatsächliche Kannibalismus in diesem Film beschränkt sich erstaunlicherweise auf eine einzige Szene, die erst nach knapp 70 Minuten abläuft. Hier wird eine junge Frau von mehreren, schwarz angemalten Menschenfressern vergewaltigt und anschließend in gemütlicher Runde verspeist. (Für diese Szene engagierte der Produzent angeblich extra eine Prostituierte.) Vorteilhaft ist immerhin die Dominanz der Story, die den Film nicht endgültig zu einer reinen Werkschau von Spezialeffekten hat ausarten lassen. Dennoch geschieht alles durchweg spekulativ und reißerisch. Von einem aufklärenden Essay über Sinn und Unsinn ethnischer Vorurteile ist Lenzis Exploitationfilm weiter entfernt, als die oben erwähnten „Mondo“-Filme es jemals waren.
Allerdings bedingt der Ablauf die Umkehrung des Gut- und Böse-Schemas, in dem der „Zivilisierte“ unter Einfluss primitiver Stammesverfassungen unbewusst in einer Rückentwicklung seine Erbschaft von Barbarei antritt. Ist die anfängliche Abscheu erstmal überwunden, schreitet der „Zivilisierte“ rabiater zur Tat, als die „Primitiven“. Eine Intention, die insbesondere Ruggero Deodato in seinen zwei Kannibalenfilmen MONDO CANNIBALE 2 – DER VOGELMENSCH (1975) und NACKT UND ZERFLEISCHT (1979) bis zum Äußersten treiben sollte.
Für Protestrufe und öffentlich bekundete Ablehnung sorgten allerdings die Tierschlachtungen, die meistens immer dann eingeführt werden, wenn der Film Gefahr läuft in Langeweile abzudriften: Einem Pavian wird mit einer Machete die Schädeldecke abgeschlagen, um Teile des Gehirns zu essen; einer Ziege wird die Kehle durchgeschnitten; Krokodile werden abgestochen und ihre sich windenden Körper der Länge nach aufgeschlitzt; Schlangen werden zerstückelt usw. Gerade diese groben Geschmacklosigkeiten sollten den vermeintlichen Realismus unterstreichen, sind aber nicht mehr als selbstzweckhafte Ausstellungen, für die man später im Zuge scharfer Kritik Entschuldigungen suchte, die Tiere wären danach gegessen worden.
Trotz dieser verzichtbaren Widerlichkeiten ist MONDO CANNIBALE ein verhältnismäßig harmloser und formal ordentlicher Abenteuerfilm, der in weiten Anteilen von der guten Kamera-Arbeit Riccardo Pallotinis lebt. Als Prototyp für ein kurzlebiges und überschaubares Subgenre offeriert der Film Ideen, die in späteren Nachzüglern als festes Stil-Element eingesetzt und bis zur metaphorischen Selbstzerfleischung ausgereizt wurden. Folglich entwickelte sich der Kannibalenfilm zur meist zensierten Unterart des Exploitationfilms, sieht man einmal von den Zombie-Streifen Anfang der 1980er ab.