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Es war einmal, gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Edinburgh, eine arme, verzweifelte, hochschwangere Frau, die sich in einer bitterkalten Nacht auf den Weg zum abgelegenen Haus von Madeleine machte, einer als Hexe verrufenen Frau, die auch als Hebamme aushalf. So kalt war es, daß selbst Vögel in der Luft zu Eis erstarrten und wie Kamikaze-Piloten gen Boden crashten. Mit letzter Kraft schleppte sich die Schwangere zum Haus und brach vor der Tür zusammen, wo sie von Madeleine in die warme, sichere Stube gezogen wurde. Dort gebar sie einen Jungen, Jack, doch die Kälte hatte ihm zugesetzt, sodaß sein kleines Herz nicht mehr schlagen wollte. Um den Kleinen zu retten, setzte Madeleine ihm eine Kuckucksuhr ein, welche die Funktionen des Herzens übernahm. Als Jacks Mutter sah, mit wie viel Liebe und Fürsorge sich Madeleine um den Jungen kümmerte, traf sie eine Entscheidung und stahl sich davon, wissend, daß Jack bei Madeleine ein besseres Leben haben wird als sie es ihm je bieten könnte. Und so nahm Madeleine Jack als ihren Sohn an und sie lebten glücklich und zufrieden bis...

Nein, nicht bis ans Ende ihrer Tage, sondern bis Jack in Schwierigkeiten geriet. Um mit der Kuckucksuhr leben zu können, galt es drei Regeln zu befolgen. 1. Berühre niemals die Zeiger deines Herzens. 2. Bezwinge deine Wut und bewahre ruhig Blut. 3. Was auch passieren mag, du darfst dich niemals verlieben. Doch als Jack der hübschen Sängerin und Tänzerin Miss Acacia begegnete, war es um ihn geschehen. Und nicht nur das: Die junge Frau erwiderte seine Gefühle. Leider war auch Joe, der Schulrowdy, hinter der Dame her, und als es zu einer Konfrontation kam, nahm das Unglück seinen Lauf. Der aus seiner Brust schießende Kuckuck traf Joe mitten ins Auge. Um der Verhaftung zu entgehen, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Gegend zu verlassen und eine Reise anzutreten. In Paris trifft Jack auf einem Rummelplatz auf den Erfinder Méliès, der mit bewegten Bildern experimentiert, sowie erneut auf das Mädchen seiner Träume, Miss Acacia. Allerdings erkennt die kurzsichtige Frau den jungen Mann nicht wieder, und die Sache wird verkompliziert, als auch noch Joe unerwartet auftaucht.

Jack et la mécanique du Coeur beweist eindrucksvoll, daß wunderschöne Animationsfilme nicht nur in Amerika oder Japan entstehen können, sondern auch in Europa. Das von Virginie Besson-Silla produzierte und von Luc Bessons EuropaCorp koproduzierte und geschätzte sechsundzwanzig Millionen Euro teure Fantasy-Märchen besticht vor allem durch seinen ungewöhnlichen Look, seine liebevoll portraitierten (Außenseiter-)Figuren und seine melancholische Stimmung, was das ambitionierte Werk ein wenig in die Nähe von Tim Burtons und Mike Johnsons Meisterwerk Corpse Bride (2005) rückt, obwohl der Film weder mit der Stop-Motion-Technik animiert wurde, noch ähnlich schauerromantische und morbide Pfade einschlägt. Dennoch wirken einige Figuren und Sequenzen auf mich, als kämen sie geradewegs aus dem visionären Hirn Burtons. Man denke etwa an die atemberaubende, mitreißend inszenierte Geisterbahnfahrt oder die zweiköpfige Frau, die an Méliès Seite arbeitet und für ihn auch vor die Kamera tritt: Méliès' Unterwasser-Interpretation von Shakespeares Romeo and Juliet ist schichtweg grandios!

Der Film ist das "Baby" des französischen Künstlers Mathias Malzieu, der die Geschichte erstmals 2007 in Form eines Kinderbuches namens La Mécanique du Coeur (Die Mechanik des Herzens) veröffentlichte, dem er wenig später mit seiner Rockband Dionysos ein Konzeptalbum mit Songs zum Buch folgen ließ. Für die Verfilmung, bei der er zusammen mit Stéphane Berla Regie führte, schrieb er selbst das Drehbuch und bettete die Lieder sachte in die Handlung ein, ohne daß sie dabei zu sehr in den Vordergrund rückten. Denn im Zentrum stehen stets die Protagonisten Jack und Miss Acacia, ihre aufkeimende, jedoch zum Scheitern verurteilte Liebesbeziehung, sowie die Fragen, die sich in diesem Zusammenhang ergeben. Fragen wie: Lohnt es sich zu leben ohne zu lieben? Oder: Ist man bereit, für einen einzigen Kuß mit seiner Liebsten alles zu geben? Die Antwort auf diese (und andere) Fragen könnte die jüngeren Zuschauer - der Film ist freigegeben ab sechs Jahren - überfordern, zumal auch düsterere Themen wie der Verlust geliebter Menschen und die Vergänglichkeit des Daseins nicht ausgeklammert werden.

Die Integration des französischen Filmpioniers Georges Méliès (1861 – 1938) in die Geschichte sorgt für nostalgische Gefühle und verankert den Film ein wenig in der Realität (auch Jack the Ripper hat einen kurzen, aber leider sinnlosen Auftritt), obwohl das gesamte Szenario im Grunde pure Fantasy mit einem Hauch von Steampunk ist. Stilistisch bekommt man die ganze Bandbreite geboten, von knallbunter, dynamischer Acton bis hin zu ruhigen, schwarzweißen Stummfilm-Passagen. Die Animation mag nicht ganz auf dem Level von Pixar & Co sein, aber die liebevoll gestalteten, zerbrechlich wirkenden Figuren, der atemberaubende Detailreichtum der Hintergründe, das wunderbar melancholische Flair sowie die Fülle an genialen Ideen machen dieses Defizit mehr als nur wett. Jack et la mécanique du Coeur ist ein Film zum Staunen, ein Film, der scheinbar spielerisch einen unwiderstehlichen Sog entwickelt und den Zuschauer in diese phantastische Welt hineinzieht. Ein zauberhafter, romantischer, gefühlvoller, trauriger, wunderschöner Film, der mit einer poetischen Szene schließt, die lange nachhallt. C'est magique.

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