Marie und Jeanne, zwei junge Frauen, die sich unterwegs kennen lernen, haben die Nase voll von ihren bisherigen eingeengten Lebensverhältnissen. Also beschließen sie, ohne Ziel kreuz und quer durch die Schweiz zu trampen. Da ihnen bald das Geld ausgeht, greifen sie auch zu kriminellen Methoden. Während das Fernsehen sie zu gefährlichen Verbrecherinnen stilisiert, begegnen sie allen guten und schlechten Seiten ihrer Mitmenschen.
„Messidor" dürfte der bekannteste und finanziell erfolgreichste Film des französisch-schweizerischen Regisseurs Alain Tanner sein, eines geistigen Weggefährten von Jean-Luc Godard. Sein lakonisches Roadmovie wirft einen kritisch-subversiven Blick auf die geistige und moralische Beschränktheit der Schweizerischen, aber durchaus auch allgemein der westlichen Gesellschaft Ende der 70er-Jahre. Dabei bleibt die Inszenierung so spröde und distanziert, wie sie es sonst eher bei Dokumentarfilmen ist: Oft gleitet die Kamera über Landschaftsaufnahmen und durch Räume hindurch und fängt die redenden oder laufenden Protagonistinnen beinahe nur zufällig mit ein - etwa auf einer Brücke, über die die Kamera einfach weiter gleitet, obwohl die beiden Frauen kurz stehen bleiben und erst nach einigen Momenten wieder zurück ins Bild eilen. Diese Inszenierung nimmt schon formal einen zentralen Aspekt des Films vorweg: Die Probleme, die hier entstehen, kommen hauptsächlich durch Menschen zustande. Während Marie und Jeanne versuchen, die Gesellschaft hinter sich zu lassen, und sich immer wieder in Wälder, auf einsame Berghänge oder verlassene Wanderwege zurückziehen, wird es jedes Mal potenziell gefährlich, wenn sie anderen Personen begegnen - von einer versuchten Vergewaltigung, der sie sich nur mit brutaler Gewalt erwehren können, über arrogante Ältere bis zu „braven Bürgern", die bei ihrem Anblick direkt die Polizei alarmieren wollen. So wie sich die Kamera in Landschaftstotalen, Luftaufnahmen und Naturimpressionen flüchtet, so wollen sich auch die beiden Frauen vor der erdrückenden Gesellschaft flüchten - und können gar nicht anders als daran scheitern.
Subversiv wird „Messidor" vor allem dann, wenn er die moralische Situierung der beteiligten Personen auslotet. So beiläufig, wie sich die beiden Akteurinnen begegnen und mögen lernen, so beiläufig beginnen sie ihren radikalen Ausstieg aus den Regeln der Zivilisation („Lass uns ein Spiel spielen"), und so beiläufig gleiten sie schließlich in kriminelle Handlungen ab. Der Diebstahl einer Pistole erfolgt noch nach dem Eindruck der versuchten Vergewaltigung, ist also durchaus nachvollziehbar. Dass diese Pistole dann wiederholt als Drohmittel gegen übergriffige Männer eingesetzt und schließlich für den Überfall auf einen Lebensmittelladen verwendet wird, macht die Handlungen schon schwieriger. Tanner verweigert eindeutige moralische Zuordnungen - die meisten, wenn auch nicht alle, Taten der beiden Frauen können durchaus nachvollziehbar sein und erfolgen oft aus Not- oder Bedrohungssituationen heraus; dennoch sind Diebstahl und Zechprellerei aus bloßem Spaß und nicht etwa aus wirklicher existenzieller Not heraus (sie könnten ja jederzeit in ihr geordnetes, wenn auch dröges Leben zurückkehren) nur schwer zu verteidigen. Doch die Kleingeistigkeit, Heuchelei und Bigotterie der meisten angepassten Menschen macht es auch schwer, deren Standpunkt zu vertreten. Da werden Meldungen aus dem Fernsehen nachgeplappert oder herablassende Belehrungen (heute Mansplaining genannt) verteilt.
Dem Film selbst gelingt es dank seiner so distanzierten, in weiten Teilen auch minimalistischen formalen Inszenierung, sich eines eigenen Kommentars zu enthalten. Er zeigt nur, was passiert, wenn sich Individuen der vermeintlich unausweichlichen Konformität der Massengesellschaft verweigern. Auf wessen Seite hier mehr Schuld entsteht (oder ob man überhaupt in solchen Kategorien urteilen kann), bleibt weitestgehend offen, auch wenn die enorm einseitige Darstellung der Medien hier ein durchaus kritischer Punkt ist - aus der Notwehr gegen Vergewaltiger wird im Fernsehen ein brutaler versuchter Totschlag. Dank dieser durchdachten Darstellung verschiedener Mechanismen der menschlichen Gemeinschaft entwirft der Film ein komplexes, vielschichtiges Porträt, das keine simplen Antworten zulässt.
Leider verliert der Film im letzten Drittel ein wenig an Tempo und zieht sich ein Stück weit in die Länge. Nicht jede handlungsarme Szene wäre hier unbedingt nötig gewesen. Das bleibt aber zu verschmerzen, da auch das Verhältnis zwischen Marie und Jeanne durchweg interessant ist - und selbst die unterschwellig brodelnde Homoerotik nie voyeuristisch ausgeschlachtet wird. Die starken, naturalistischen, doch stets eindrucksvollen Bilder der Schweizer Landschaft und das spannende Ausstiegs-Gedankenspiel machen „Messidor" insgesamt zu einem leisen, aber fesselnden Werk über Rebellion und Gewalt, das mit einem tragischen Schlusspunkt endet und sehr viel Stoff zum weiteren Nachdenken übrig lässt.