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Paul (Bruno Ganz) ist Maschinist auf einem Frachtschiff. Als dieses den Hafen von Lissabon erreicht, verlässt er das Schiff und sucht sich ein kleines Hotel in der Altstadt, wo er die Tage größtenteils auf seinem Zimmer verbringt. Obwohl er noch einen Vertrag hat, kehrt er nicht mehr auf das Schiff zurück, sondern beobachtet von seinem Hotel aus, wie es wieder ablegt...

Als Alain Tanner "Dans la ville blanche" inszenierte, nutzte er die zunehmende Tendenz der frühen 80er Jahre zum Hedonismus, um sie zu inhaltlicher wie stilistischer Konsequenz zu führen. Obwohl äußerlich in der Abbildung der Realität nahezu dokumentarisch, gelingt es Tanner ein künstlich wirkendes Szenario zu entwickeln, dass erfahrbar werden lässt, wie ein Mensch quasi aus dem Leben verschwindet. Damit traf er den Nerv einer Zeit, in der - ausgehend von den 70er Jahren - immer mehr die Option zur Diskussion stand, sich jedem gesellschaftlichen Zwang zu entziehen. Der damals 42jährige Bruno Ganz wirkte mit seiner drahtigen Figur und dem schon von Erfahrungen gezeichneten Gesicht wie die Idealverkörperung eines Mannes, der nur noch einen letzten Schritt zu einer absoluten Freiheit gehen muss. Auch sein Beruf als Seemann strömt dieses Lebensgefühl aus, aber Paul selbst sagt einmal später, dass das nur eine Illusion ist, wenn man sich die gesamte Zeit in einem Maschinenraum aufhalten muss.

Der Beginn des Films wirkt noch konventionell, wenn Paul nach der Landung seines Schiffes im Lissaboner Hafen von Bord geht, sich ein Hotelzimmer mietet und ins Nachtleben der Stadt stürzt, mit ihren Restaurants und Bars. Parallel entwickelt Tanner eine andere Sichtebene, indem er Brunos Blick mit den Bildern seiner Super 8 - Kamera zeigt, die er einfach draufhaltend aufnimmt. Die fertiggestellten Kassetten schickt er Élisa (Julia Vonderlinn), seiner Geliebten in der Schweiz, mit der er so versucht, seine Erfahrungen zu teilen. Zunehmend wirkt diese Verbindung wie der einzige Anker zu einer Realität, der sich Paul, der sein Hotelzimmer kaum noch verlässt, immer mehr entzieht. Allerdings wird er in seinen Briefen niemals konkret, etwa als sie ihn fragt, warum er nicht mehr auf sein Schiff zurückgekehrt ist?

Entscheidend an Pauls Verhalten ist die fehlende Zielsetzung. Weder etwas zu tun, noch nichts zu tun, entspringt seiner Motivation, sondern ergibt sich einfach - wie die Liebesbeziehung zu Rosa (Teresa Madruga), einer jungen Mitarbeiterin des Hotels, mit der er sich von Beginn an gut verstanden hatte. Ihre Liebe und ihre intensive Sexualität lassen einen Moment glauben, dass Paul wieder ins Leben zurück kehrt, aber Rosa, die nach Frankreich gehen will, um dort zu arbeiten, spürt bald, dass Paul keinerlei Ziele hat. Das zeigt sich auch darin, dass er die Beziehung zu Rosa sowohl in Worten wie in Bildern mit seiner Kamera beschreibt, und seiner Freundin in die Schweiz schickt. Konventionen oder Rücksichtsnahmen finden bei ihm nicht mehr statt, er bildet das Leben nur noch ab.

Mit der hier geschilderten Diskrepanz zwischen Reaktion und Emotion führt Tanner den Hedonismus an eine schmale Grenze, denn von einem liebenden Mann werden Verhaltensmuster gegenüber der geliebten Frau erwartet, die Paul nicht erfüllt. Dabei ist es keineswegs so, dass er nicht will, sondern scheinbar nicht mehr kann. Der Film liefert deshalb einen Moment, der wie eine Befreiung wirkt - Paul entdeckt einen Mann wieder, der ihn Wochen zuvor nachts überfallen und bestohlen hatte. Er verfolgt ihn und will sein Geld wieder zurück, doch dieser sticht ihn nieder und flieht. Tanner spielt mit dem Gedanken an Pauls Tod, und lässt damit einen fast tröstlichen Augenblick entstehen, der wie eine Erlösung wirkt.

Doch Tanner lässt Paul nicht sterben, sondern nutzt diese Situation zu einem Wendepunkt, mit dem er Pauls Leben jede bisher noch vorhandene Romantik raubt. Als er aus dem Krankenhaus entlassen wird, ist Rosa, ohne eine Adresse zu hinterlassen, verschwunden. Um seine Rückfahrt in die Schweiz bezahlen zu können, verkauft er seine Super 8 - Kamera, aber eine echte Rückkehr findet nicht mehr statt. Auch ohne die Kamera sieht er die Welt nur noch wie diese - ohne Ton und in verwackelten, leicht farblosen Bildern.

Pauls Person ist gleichzeitig vorbildhaft wie provokativ. Bruno Ganz, der Souveränität und Sensibilität ausstrahlt, verkörpert zum Einen die Sehnsucht nach Freiheit, aber vermittelt in der Konfrontation mit einer wunderbaren Frau wie Rosa, auch Passivität und Verantwortungslosigkeit. Mit dieser Konstellation vermeidet Tanner Einseitigkeiten und lässt seine Haltung zu Paul offen. Obwohl "In der weißen Stadt" ein typisches 80er Jahre Thema aufgriff, und auch stilistisch darin verankert ist, bleibt der Film in seiner sehr ruhigen Erzählweise zeitlos. Das liegt neben der Bewertung einer Figur wie Paul, die allein vom Standpunkt des Betrachters abhängig ist, und sich entsprechend verändern kann, vor allem an der Weitsicht Tanners, Konsequenzen anzusprechen, die heute schon Realität sind - allein der virtuelle Blick durch die Super 8 Kamera nimmt den aktuellen Realitätsersatz von Internet und Handyfilmen vorweg (9/10).

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