Review

Vorsicht! Es folgt eine detailliertere Auseinandersetzung mit diesem Film!

Als Fred Madison auf seiner Gegensprechanlage die Worte “Dick Laurent ist tot” entgegennimmt, bedeutet dies für ihn den Auftakt zu einer Reihe von mysteriösen und furchtbaren Ereignissen, die darin münden, daß er sich ein Video ansieht, auf dem er vor seiner toten Frau Renee kniet. Schnell wird er von der Polizei verdächtigt und festgenommen, schließlich zur Todesstrafe verurteilt. Doch am nächsten Morgen findet ein Wärter den jungen Automechaniker Pete Dayton in der Zelle anstelle von Fred, der spurlos verschwunden ist...
Ganz im Stile eines typischen David Lynch-Thrillers ist “Lost Highway” ein verstörendes Filmpuzzle, das sich einfach nicht zusammensetzen läßt. In seinem Thriller passieren so viele irrationale und unerklärliche Dinge, daß es dem Zuschauer schwer fällt, der interessant gestrickten Geschichte zu folgen.
Der Film ist in drei Teile aufgeteilt: Die erste Stunde erzählt vom Zweifel, der sich langsam in das Verhältnis eines Mannes, Fred Madison (Bill Pullmann), zu seiner Frau Renee (Patricia Arquette) einfrißt. Während er in einem Klub Saxophon spielt, ruft er bei seiner Frau zu Hause an, um zu kontrollieren, ob sie da ist oder sich anderweitig, vielleicht mit einem anderen Mann vergnügt. Was diesen Teil so interessant macht, ist die Tatsache, daß inhaltlich eigentlich so gut wie gar nichts passiert und der Zuschauer dennoch gefesselt wird. Es wird kaum gesprochen - und wenn, dann sind es sparsame und vor allem banale Dialoge über höchstens fünf Zeilen. Das große villenartige Haus wirkt wie ein Gefängnis, es gibt zahlreiche Schattenbereiche, die die beiden Besitzer teilweise zu verschlucken scheinen, was “Lost Highway” eine gespenstische, beinahe unwirkliche Atmosphäre verleiht. Das Ehepaar findet an zwei Morgen hintereinander zwei Videobänder vor ihrer Villa: Das eine zeigt deren Haus von außen, das andere zeigt eine Kamerafahrt durch die Wohnung bis ins Schlafzimmer der Madisons, was nicht nur Fred und Renee beunruhigt und zum Anruf bei der Polizei verleitet, sondern auch den Zuschauer. Obwohl rein gar nichts geschieht, erzielen die Bilder eine graueneinflößende Wirkung. Man fragt sich: Wer hat die Aufnahmen gemacht? Wie kann er sie gemacht haben? Die Inhaltslosigkeit der Bilder wird ein erstes Mal unterbrochen, als das Paar auf eine Party geht, auf der Fred von einem Mann (an Mephisto erinnernd) darauf angesprochen wird, daß der sich gerade in seinem Haus befinde. Das scheinbar Unmögliche bestätigt sich, als Fred bei sich zu Hause anruft und tatsächlich die Stimme des Fremden hört, der gleichzeitig vor ihm steht. Eine rätselhafte Szene, die bis zum Schluß nicht aufgeklärt wird - wie so vieles in diesem Film.
Danach passiert wieder erst einmal gar nichts (minutenlang sieht man den Hauptdarsteller durch die Flure schleichen), bis Fred eine dritte Kassette findet, sie sich ansieht und entsetzt sich selbst darauf erblickt - vor der blutüberströmten Leiche seiner Frau. Wieder bleiben Fragen über Fragen. Wie ist das möglich?
Er wird verhaftet, bekommt Kopfschmerzen in seiner Todeszelle und verwandelt sich in einen völlig anderen Menschen, womit die Genrebezeichnung “Thriller” für diesen Film eigentlich gar nicht mehr gerechtfertigt wird.
Danach beginnt der zweite Teil. Der Zuschauer sieht die Ereignisse fortan aus der Sicht Petes - und dessen Geschichte scheint ein Spiegelbild der ersten zu sein: Passierte im ersten Teil so wenig, so überschlagen sich hier die Ereignisse; Freds Geschichte erzählt vom drohenden Ende einer Liebesbeziehung, Petes vom Beginn einer solchen - er lernt die Blondine Alice (wieder Patricia Arquette) kennen und verliebt sich in sie. Damit betrügt er seine Freundin - im Gegensatz zum ersten Teil, wo Renee ganz offensichtlich ihren Mann betrügt. Alice ist die Freundin eines skrupellosen Gangsterbosses, Dick Laurent, und sie überredet Pete, dessen Partner zu überfallen und sich mit dem Geld gemeinsam aus dem Staub zu machen. Nach mehr oder weniger gelungenem Plan schlüpfen Alice und Pete vorerst in der Hütte eines Hehlers unter.
Die letzten 15 Minuten bilden dann den dritten Teil, denn plötzlich ist aus Pete wieder Fred geworden und Alice wie vom Erdboden verschluckt. Im dritten Teil schließen sich mehrere Kreise: Fred begegnet dem Fremden, der eine Videokamera auf ihn richtet; Fred bringt den Gangsterboß um, der sich kurz zuvor mit Renee (die scheinbar wieder lebt) vergnügt hat. Und am Ende ist es Madison selbst, der auf die Gegensprechanlage die Worte “Dick Laurent ist tot.” spricht, die er am Anfang noch aus dem Inneren des Hauses entgegengenommen hatte. Verfolgt von mehreren Polizeiwagen fährt Fred schließlich den “Lost Highway” entlang, bis er zu schreien anfängt und sich erneut zu verwandeln droht... Mit dem unerwarteten Abspann (dazu David Bowies “I’m Deranged” gesungen) läßt Lynch die Zuschauer irritiert zurück und sorgt dafür, daß diese sich mit dem gerade Gesehenen ein weiteres Mal auseinandersetzen.
David Lynch baut seinen restlos verwirrenden Plot ungemein geschickt auf. Immer wenn der Zuschauer glaubt, einen Teil des Puzzles zusammengesetzt zu haben, läßt Lynch ihn doch wieder ins Leere laufen. Da wäre zum Beispiel das Foto: Das erste Mal sieht man darauf Renee und Alice nebeneinander stehen. Dem Zuschauer wird also suggeriert, daß sich beide kennen. Doch als man später einen zweiten Blick auf dasselbe Foto wirft, ist die blonde Alice ganz plötzlich verschwunden. Genauso offen bleibt die Frage: Wer ist der mysteriöse Mephisto? Was spielt er für eine Rolle? Als er mit Pete telefoniert, sitzt er neben dem Gangsterchef, der diesen gegenüber Pete als seinen Freund bezeichnet hat. Am Schluß ist es aber “Mephisto”, der tatkräftig bei der Ermordung seines sogenannten Freundes Laurent mithilft.
Was hat das zweimal auftauchende, rückwärts brennende Haus zu bedeuten? Fragen über Fragen, die nicht beantwortet werden. Rätselhafte Symbole, die nicht erklärt werden können.
Lynch, der schon beunruhigende Klassiker wie “Eraserhead” oder “Blue Velvet” gedreht hatte, schaffte das Unglaubliche: Obwohl er einen Thriller geschaffen hat, den ich nicht verstanden habe, wußte er mich von Anfang bis Ende zu begeistern. Ich habe das Gefühl, daß nicht eine einzige Szene überflüssig ist. Ursprünglich sollte das Drehbuch 35 Seiten länger sein. Ob “Lost Highway” dann eine solch hypnotisierende Wirkung erreicht hätte, mag ich bezweifeln.
Die schauspielerischen Leistungen sind überdurchschnittlich gut: Bill Pullmann, die betörend schöne Patricia Arquette, aber besonders Robert Loggia als fieser Gangster und Robert Blake als diabolischer “Mystery Man” überzeugen vollends, während Balthazar Getty ein wenig abfällt.
Ebenso passend die vielen eingestreuten Musiktitel, u.a. Lou Reeds “This Magic Moment”, Rammsteins “Heirate mich” und besonders “I’m Deranged” von David Bowie, dessen Titel über Vor- und Abspann läuft.
“Lost Highway” gehört sicherlich zu der Gattung Filme, die nicht jedem Zuschauer zusagen mögen aufgrund der sehr komplexen Erzählweise, die äußerste Konzentration erfordert, womöglich mehrmaliges Ansehen, und selbst dann noch nicht entschlüsselt werden kann. Aber Lynch selbst sagt ja hierzu: “Sobald ein Film einmal nicht rational erklärbar ist, wird das Publikum gleich unruhig.”

Fazit: Gewollt komplexer und kaum entschlüsselbarer, schwer verständlicher, moderner “Film Noir”(ein naiver Mann verfällt einer femme fatale), der vor Einfallsreichtum strotzt und sich nicht an genreübliche Konventionen hält, sondern mit einem ganz eigenen Stil, wie ihn wohl nur David Lynch beherrscht, das Publikum zu verstören und zu fesseln weiß.

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