LANDHAUS UND LIBIDO
Juan Luis Buñuel wollte eigentlich nie zum Film, wollte nie in die übergroßen Fußstapfen seines Vaters treten. Dass dieser überhaupt ein Filmemacher war, wurde seinem Sohn Juan erst spät klar, drehte der alte Buñuel doch seine wenigen Filme in kurzer Zeit, so dass diese Tätigkeit seinen Kindern eher verborgen blieb. Juan Luis Buñuel studierte in Amerika englische Literatur, um seinen eigenen Weg zu finden. Der führte ihn aber dennoch zum bewegten Bild: während er die Ferien in Mexiko verbringen wollte, brachte ein mit seinem Vater befreundeter Produzent den jungen Buñuel als Assistant Director an das Set von Orson Welles' Don Quichotte. Das war 1955. Der Film wurde nie fertiggestellt, doch für Juan Luis begann damit seine Arbeit im Filmgeschäft.
In den folgenden Jahren arbeitete er als Assistant Director für Filme seines Vaters wie The Young One (Das junge Mädchen, 1960), Viridiana (1961) und Le journal d'une femme de chambre (Tagebuch einer Kammerzofe, 1964). In Europa lernte der junge Kosmopolit die Regisseure der Nouvelle Vague kennen, assistierte u.a. Louis Malle bei Viva Maria! (1965) und Le voleur (Der Dieb von Paris, 1967) und Henri Verneuille bei La bataille de San Sebastian (Die Hölle von San Sebastian, 1968). Seine ersten eigenen Filmprojekte, die beiden dokumentarischen Kurzfilme Le potier und Calanda Mitte der 60er Jahre, scheinen verschollen zu sein. Dann realisierte Juan Luis Buñuel seinen ersten von insgesamt drei Spielfilmen: Au rendez-vous de la mort joyeuse. Alle drei arbeiten mit Elementen des Phantastischen und des Horrors, ein nicht gerade typisch französisches Genre und gewiss nicht der Schule der Nouvelle Vague geschuldet. Vielleicht kommt hier doch der Einfluss des Vaters und des Surrealismus zum tragen? Mit Salvador Dalí und besonders Joan Miró waren die Buñuels befreundet, auch mit dem Bildhauer Alexander Calder. Doch Buñuel wehrt sich gegen Vergleiche mit seinem Vater:
Manche Leute denken das, aber mein Vater und ich kommen aus zwei vollkommen unterschiedlichen Welten. Er kommt eher aus dem Mittelalter, hat sich mit Religion beschäftigt. Ich dagegen komme aus dem 20. Jahrhundert, ich wuchs in Paris und New York auf. Und meine Themen haben nichts mit denen meines Vaters zu tun.
Und er sieht sich nicht als Horrorregisseur. Das sei nur eine Phase gewesen. Zufall, dass gerade in diese Phase seine drei Spielfilmproduktionen fielen, die innerhalb dreier Jahre fertiggestellt wurden: auf Au rendez-vous de la mort joyeuse folgten La femme aux bottes rouges (Die Frau mit den roten Stiefeln, 1974) mit Catherine Deneuve und Fernando Rey und Leonor (Eleonore, 1975) mit Michel Piccoli, Liv Ullmann und Ornella Muti.
Obwohl alle drei Filme bemerkenswert sind, fielen sie mehr oder weniger der Vergessenheit anheim - im Falle des Debütfilms eindeutig mehr, denn trotz eines frühen Auftritts des jungen Gerard Depardieu sind die beiden späteren Filme ungleich prominenter besetzt. Au rendez-vous de la mort joyeuse ist eine kleine Produktion, abgedreht in drei Wochen, ein kleiner Film, der mit kleinen Mitteln aber großer Stilsicherheit arbeitet. Dazu trägt besonders der versierte Kameramann Ghislain Cloquet bei, der z.B. großartige Arbeit für die beiden Filme Au hasard Balthazar (Zum Beispiel Balthazar, 1966) und Mouchette (1967) von Robert Bresson leistete, später beispielsweise Woody Allens Love and Death (Die letzte Nacht des Boris Gruschenko, 1975) und Roman Polanskis Tess (1979) fotografierte. Seine Kamera in Buñuels Spielfilmdebüt ist nicht auf billige Effekte aus, verhält sich ruhig und nüchtern. Gerade dies verleiht dem Film als Kontrapunkt zu seinem genregemäßen, aufwühlenden Inhalt eine unterschwellige und deshalb im besten Sinne unheimliche Spannung. Es geschieht nicht viel in diesem Film. Eine Familie zieht in ein abgelegenes Landhaus, die Eltern streiten ein wenig, der kleine Junge spielt unbekümmert, die jugendliche Tochter verhält sich rätselhaft und dann fliegt mitunter das Mobiliar durch die Gegend oder gleißendes Licht und undefinierbare Geräusche verunsichern die Hausbewohner. Nichts Neues, vor allem nicht für heutige Filmfreunde des Haunted-House-Subgenres. Dennoch ist Au rendez-vous de la mort joyeuse sehenswert. Die Ruhe, mit der der Einbruch des Unheimlichen in den Alltag erzählt wird, verunsichert weit mehr als so mancher Schockeffekt anderer Genrebeiträge. Cloquets Kamera wird dabei durch einen unaufgeregten Schnitt und den weitgehenden Verzicht auf Filmmusik in ihrer Wirkung verstärkt. Der Horror des Unmöglichen filmisch umgesetzt in großer Nüchternheit: Buñuels Genrefilm ist kein Beitrag zum kommerziellen Kino.
Anfang der 70er Jahre wurde das Thema des heimgesuchten Hauses, das ein Eigenleben zu führen scheint und alles daran setzt, seine Bewohner so schnell wie möglich mit so viel Horror wie möglich loszuwerden, zum eigenständigen Subgenre ausgebaut. Die Geschichte der Familie, die in ein neues Haus zieht und von diesem auf Leben und Tod rausgeekelt wird, erlebte reichliche, aber nicht unbedingt vielfältige Ausformung. Neben Robert Wises psychologischem Spukhaus in The Haunting (Bis das Blut gefriert, 1963), müssen hier Burnt Offerings von Dan Curtis (Landhaus der toten Seelen, 1976), The Amityville Horror von Stuart Rosenberg (1979) - mit seinen sieben wenn auch schwachen Sequels sowie einem Remake - und vor allem Tobe Hoopers Poltergeist (1982) als Kulminationspunkte genannt werden. Buñuels Film lässt sich aufgrund mancher Elemente der Erzählung zwischen The Haunting und Poltergeist einordnen und es ist kaum vorstellbar, dass Hooper und Produzent Steven Spielberg ihre Ideen ohne Kenntnis des zehn Jahre älteren Films entwickelt haben. Robert Wises Film hatte die investigative Parapsychologie in das Spukhaus gebracht - eine Modernisierung, die Buñuel zehn Jahre später in Form des Fernsehteams mit der Geschichte der gebeutelten Familie kombinierte, was wiederum Hooper/Spielberg weitere zehn Jahre später mithilfe eines sympathischen Parapsychologietrupps zum familientauglichen Hollywoodhorror perfektionierten. So nimmt Buñuels Film die unterhaltsame amerikanische Schauergeschichte teilweise vorweg, ist in seiner Psychologie und Ernsthaftigkeit jedoch The Haunting deutlich näher.
Nachdem ein Freund von Buñuels Filmfamilie zwischen Küchenmöbeln beinahe zerquetscht wird, überlassen sie das Haus einem Fernsehteam, das auf unfassbare Geschichten aus ist. Die bekommt es auch, aber erst als die pubertierende Tochter allein in das Haus zurückkehrt. Eindeutig hat Buñuel die einschlägige Literatur über Poltergeistphänomene gelesen und arbeitet überwiegend latent mit der Sexualität seiner Hauptfiguren. Mehrfach äußert die Tochter, dass sie die Eltern nicht atmen hören möchte. Als sie zurückkehrt, macht sie dem Filmteam schöne Augen. Und anders herum erlebt der Chef des Filmteams eine amouröse Situation mit ihr, die sich aber als Wahn- oder Geistererscheinung herausstellt und ihn in einem sumpfigen Haufen Matsch zurücklässt. Nachdem auch noch ein Pfarrer, unterwegs mit einer Gruppe jugendlicher Waisenmädchen, wie jedes Jahr in dem Haus Unterschlupf sucht, glaubt der Kameramann des Teams ihn durchs Schlüsselloch mit zwei der Minderjährigen im Bett zu sehen - auch dies nur ein Trugbild. Doch wo endet hier die Realität und wo beginnt das Trugbild? Dass Buñuel gerade keine Erklärungen bietet, sich auf Symbolismus verlässt und uns seine Horrorgeschichte in trockener Manier erzählt, macht seinen Film bemerkenswert. Die Libido der Figuren ist keineswegs irreal und offenbar ist es noch nichteinmal die Tochter allein, die hier aufgrund ihrer pubertär-verwirrten Emotionalität Poltergeistphänomene, Trugbilder und Erscheinungen hervorruft. Was der Familie und den anderen Personen, die sich in dem Haus aufhalten, geschieht, hat auch mit ihren eigenen Befindlichkeiten zu tun. Nicht von ungefähr findet der seinem eigenen Schaffen skeptisch gegenüberstehende Vater eines Tages seine Zeichnungen von Matsch (s.o.) verunstaltet. Die Ängste und Befürchtungen der Bewohner finden ihre Resonanz in den unheimlichen Vorgängen im Haus. Ist das Haus also böse? Bringt es an den Tag, was die Leute in ihm lieber verheimlichen oder sich selbst nicht eingestehen können oder wollen? Das Spiegelbild der Tochter verselbstständigt sich und scheint ein zweites Ich zu offenbaren, den Doppelgänger, den Evil Twin, und als sie allein zurückkehrt, ist sie diesem Spiegelbild ähnlicher als zuvor.
Buñuels Film endet nicht in einer Aufklärung. Es gibt in Frankreich keinen Indianerfriedhof, dessen Geister auf Rache sinnen, wie in Amityville oder Poltergeist und es gibt in diesem Film auch keinen bestialischen Mord, der seine Spuren tief in das Gedächtnis des Gebäudes gegraben hätte. Au rendez-vous de la mort joyeuse endet unaufgelöst und umso verstörender. Ihn mit anderen Genrefilmen zu vergleichen wird ihm nicht gerecht, da es ihm weniger um seinen Beitrag zum Genre als um seine Art des Erzählens geht. Diese Freiheit nahm sich Buñuel seinerzeit. Nach seinen drei Spielfilmen arbeitete er für Fernsehproduktionen, doch seit 1996 wandte er sich ab vom bewegten Bild:
Das Fernsehen ist schlimm geworden. Wenn man ein wenig unabhängig sein will, dann hat man keine Chance. Also habe ich mich Mitte der 90er entschlossen, dem Ganzen den Rücken zu kehren. Das war mir lieber, als meine Freiheit aufzugeben. Ich habe zwar immer Projekte im Kopf, aber Geld dafür gab es eigentlich nicht mehr. Ich verbringe meine Zeit mit Bildhauerei und Skulpturen, bin also der Kunst treu geblieben.