Als dem jungen Internatsschüler Max dieses hübsche Mädchen entgegenkommt, spürt man deutlich, dass er innehalten und sie ansprechen möchte. Allein, der Moment ist denkbar ungünstig; sie verlässt mit ihrer Klasse gerade das KZ, er betritt es mit seiner.
So ambivalent wie diese Szene ist in "Finsterworld" so ziemlich alles.
Zu jenem Zeitpunkt ist Max längst als verzogenes Wohlstandsekel porträtiert, seine Sichtweise, die sich die Erzählung für diesen Moment zu eigen macht, wäre gewöhnlicherweise völlig unerheblich, zu sehr drückt doch eigentlich das Gewicht des Handlungsortes.
Frauke Finsterwalders Spielfilmdebüt jedoch geht eigene Wege, sucht hinter vermeintlich großen Themen nach kleinen Träumen, die seine Protagonisten antreiben. Und wirft dabei genüsslich ein Schlaglicht auf gesellschaftliche Konventionen.
Eine andere Szene: Dass der gezielt nicht-sexuell inszenierte Fell- und Kostümfetisch des Polizisten Tom auf Seiten seiner Freundin Franziska für größtmögliches Entsetzen und körperliche Abscheu sorgt, passt wie die Plüschpfote aufs Auge; eine harmlose Normabweichung ist verstörender als das (wie nicht zu vermitteln vergessen wird; längst von einer Mainstream-Ästhetik einverleibte) soziale Elend, das die überengagierte Dokumentarfilmerin in einer Plattenbausiedlung einzufangen, (lies: auszubeuten) gedenkt.
Diese Begebenheiten, diese Miniaturen deuten es an: Der nach Struktur eines Episodenfilms verfahrende "Finsterworld" hat seinen Blick auf dem großen Ganzen, hier geht es ganz allgemein um Deutschland. Um seine Vergangenheit, vielleicht um seine Zukunft, ganz sicher aber um seine Gegenwart.
Jedes "ist" wird hier liebevoll eingefangen, jeder Alltäglichkeit wird ein wenig Magie abgerungen: Ein Spuckefaden, der in einen Waschbeckenabfluss rinnt. Geraspelte Hornhaut, die in güldenem Gegenlicht wie Zauberstaub rieselt. Ein schimmernder Käfer in einem Rapsfeld. Und in dieser märchenhaften Welt kommt wie in jedem guten Märchen jede Handlung einer Chiffre gleich, wie beispielsweise die Comiclektüre der Jugendlichen als Geste des Aufbegehrens im Lande der Dichter und Denker verstanden, wie später die fatale Tat eines der Protagonisten als Kommentar zum hiesigen Verhältnis zu Tieren gelesen werden kann.
Dass der Film dabei nicht unter seiner selbst aufgebürdeten Last an Bezügen und bizarren Situationen kollabiert, liegt an der von Sonnenschein durchfluteten Inszenierung, die sich mit unbeschwert leichter Hand eine Alternativwelt erschafft. So gut wie keine Statisten bevölkern die Szenerien, alles Seltsame scheint sich immer aus dem Verlauf der Dinge selbst zu bedingen, der Ton bleibt auch in den bittersten Momenten sanft.
Das mag phasenweise übermäßig sarkastisch bis zynisch erscheinen, und wird, da der Film auch bis zum Schluss keine Anstalten unternimmt, sich eine allgemeinverständliche Haltung zu seinen Vorgängen zuzulegen, geschweige denn, allen Figuren Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so manchen Zuschauer vor den Kopf stoßen.
Dabei liegt gerade in dieser Vagheit die größte Stärke von "Finsterworld", denn er hegt und pflegt, was sich im Großteil des modernen deutschen (und, nebenbei bemerkt, gerade im Komödienbereich qualitativ extrem unterversorgten) Films scheinbar verabschiedet hat: das Unausgesprochene.
Alles muss heutzutage verbalisiert, zu allem muss in irgendeiner Form Stellung bezogen werden, denn hinter jeder Ecke könnte der nächste Shitstorm eines unverständigen Twittermobs lauern. Normierung als Absicherung gegen den Unbill einer empfindlich gewordenen Welt. Drehbuch-Co- und Romanautor Christian Kracht kennt dieses Spiel, sein flirrender, klare Positionen umtänzelnder Roman "Imperium" war zuletzt für eine saftige Nazi-Feuilletondebatte gut.
"Finsterworld" -wie sich die Regisseurin via Titel in die Gleichung mit einbezieht, spricht schon Bände- verfährt da ähnlich, lässt den Zuschauer mit einem Knäuel Handlungsfäden zurück, auf dass sich jeder eigene Anknüpfpunkte suchen möge.
An dem, wenn man so will, großen Teppich namens Deutschland.