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Wenig organisiert und leicht nervös wirkt der Fußpfleger Claude (Michael Maertens), als er während der Fahrt mit seinem alten Auto versucht - gleichzeitig mit Handy und Kugelschreiber jonglierend - einen neuen Termin zu vereinbaren. Beinahe folgerichtig passiert er dabei ein am Straßenrand parkendes Polizeiauto, das sofort die Verfolgung aufnimmt. Schuldbewusst reagiert Claude auf die gerechtfertigten Vorwürfe des Polizeibeamten Tom (Ronald Zehrfeld), um sich gleichzeitig wortreich dafür zu entschuldigen. Er bietet Tom ein vollständiges Fußpflege-Set an, sollte dieser auf eine Verwarnung verzichten - ein klassischer Fall von Bestechung in einer wenig erfolgversprechenden Situation. Überraschend nimmt Tom sein Angebot an, lässt ihn unbehelligt weiter fahren, packt das Set in Geschenkpapier, um es seiner Freundin Franziska (Sandra Hüller) als persönliches Präsent zu übergeben.

Allein an diesem kleinen Ausschnitt aus Franziska Finsterwalders Film "Finsterworld" lassen sich die zwei wesentlichen, nur äußerlich gegensätzlichen Merkmale des Films erkennen - fantastische Hochstilisierung und gnadenlose Realität. Nur zwei Fahrzeuge verkehren auf der Straße, die in gleißendem Sonnenlicht liegt, denn die alltägliche Umgebung und geographische Zuordnungen werden ausgeblendet. Menschen, Dinge und Orte stehen als generelle Symbole für die "Finsterworld" - der Pfleger, die alte Frau, der Polizist, die Dokumentarfilmerin, der Harz 4-Empfänger, das gutsituierte Ehepaar, Jugendliche, die Schulklasse, der Lehrer, die KZ-Gedenkstätte, die Autobahn, der Eremit, der Wald, das Auto. Die "Finsterworld" ist einerseits ein Abbild Deutschlands, andererseits eine Parallelwelt, die sich die Freiheit nimmt, individuell zu gewichten, ohne auf ausgleichende Befindlichkeiten achten zu müssen.

Das verleiht dem Film die notwendige Schärfe, ohne dabei seinen unterhaltenden, teilweise komischen Charakter zu verlieren. Corinna Harfouch und Bernhard Schütz sind großartig als wohlhabendes Ehepaar Sandberg, Mitte 50, die sich außerordentlich gut verstehen - besonders in ihrer abschätzigen Haltung gegenüber ihrer Umwelt, die sie in intelligent bösartigen Dialogen sezieren. Dass sie sich darüber hinaus nur für sich selbst interessieren und sowohl seine Mutter (Margit Carstensen), als auch ihren gemeinsamen Sohn Maximilian (Jakub Gierszal) vernachlässigen, lässt die Vielschichtigkeit von "Finsterworld" erkennen, der zwar episodenhaft erzählt ist, in dem aber alles zusammenhängt. Tragik und Humor liegen dabei dicht nebeneinander, säuberlich voneinander getrennt und ohne sich gegenseitig abzuschwächen.

Wenn Tom seiner Freundin Franziska das Fußpflege-Set als persönliches Geschenk überreicht, dann lügt er damit, will aber gleichzeitig Nähe zu ihr herstellen, um ihr eine sehr persönliche Leidenschaft zu gestehen. Sie, die engagierte Dokumentarfilmerin, erregt sich zwar über die Passivität und Wortlosigkeit des von ihr beobachteten Langzeitarbeitslosen, ist aber ebenso unfähig, auf ihr Gegenüber einzugehen. Mit einer Kommunikation, die konsequent aneinander vorbeiführt, vor dem Hintergrund einer renovierungsbedürftigen Küche, vermittelt der Film geradezu schmerzhaft, wie weit die Protagonisten an den eigenen Bedürfnissen vorbei leben. Diese Momente, mit denen "Finsterworld" immer wieder fast schockartig Nadelstiche setzt, verleihen dem Film die notwendige Tiefe, ohne dafür einen offen gesellschaftskritischen Stil anzunehmen.

Sehr schön wird das an der Episode um den Lehrer Nickel (Christoph Bach) deutlich, der mit jugendlichen Privatschülern zu einer KZ-Gedenkstätte fährt, um anschaulichen Geschichtsunterricht zu betreiben. Zuerst entwickelt sich die Situation mit der frech, aufmüpfigen Natalie (Carla Juri) und dem verwöhnten Sohn aus reichem Haus, Maximilian Sandberg, im Stil einer Jugend-Komödie, um in eine emotionale Katastrophe zu münden, die äußerlich gar nicht sichtbar wird. Im Gegenteil kommt der Täter ins Gefängnis und das glückliche Paar fällt sich in die Arme. Es ist der Mut, Unrecht und Entsetzen zuzulassen, der "Finsterworld" zu einem außergewöhnlichen Film werden lässt. Das er dabei die äußerliche, oberflächliche Fassade bewahrt, wie sie in der medienwelt verbreitet ist, verstärkt noch den bleibenden Eindruck.

Die Gedanken von Frauke Finsterwalder, der Regisseurin des Films, flossen in eine Kritik ein - das Interview mit ihr ist von der Filmseite aus verlinkt (9/10).

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