Viele Filmfans sind Gewohnheitstiere. Wenn ein Film den Titel „Halloween“ trägt, möge doch bitte auch Michael Myers darin vorkommen (anders als im dritten Teil der Reihe). Wenn die nächste RomCom in die Kinos kommt, möge die doch bitte ein Happy End haben. Weichen die Macher von dem altbekannten Muster ab, laufen die Macher Gefahr, keinen Erfolg an der Kasse zu haben oder es sich zumindest mit der Zielgruppe zu verscherzen. Das gilt auch für über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg in der Branche tätige Regisseure: Wenn die ihr neuestes Werk herausbringen, mögen darin doch bitte schön die üblichen Trademarks enthalten sein, für die sie so beliebt sind. Daher bleibt es zweifelhaft, ob ein Hitchcock-Western erfolgreich gewesen wäre. Oder was würde die Welt zu einer Tarantino-Romanze sagen, die ganz ohne die typischen Wortkaskaden, die er seinen Protagonisten sonst so gern in den Mund legt, auskommen würde?
Der einstige Kultregisseur Dario Argento ist auch so ein Fall. Spätestens mit „Rosso – Die Farbe des Todes“ wurde ihm eine glorreiche Zukunft vorausgesagt. Die hatte er in der Tat. Von den goldenen 70ern hangelte er sich weiter in die immerhin noch silbernen 80er und festigte seinen Ruf als Meister des inhaltlich zwar dürftigen, dafür optisch aber umso prachtvolleren Giallos. Egal ob bodenständig („Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe“, „Tenebre“, „Terror in der Oper“) oder übersinnlich („Suspiria“, „Inferno“, „Phenomena“) – er bot stets was fürs Auge und baute sich eine große Fangemeinde auf, die sich heute noch um ihn scharrt. Sein Ruf ist also immer noch positiv, obwohl in den 90ern sein Niedergang begann und sein letzter allseits anerkannter Film schon fast 30 Jahre zurückliegt („Terror in der Oper“) und seine neuesten Versuche „Mother of Tears“, „Giallo“ und vor allem „Dracula 3D“, obwohl bereits schwach, immer noch schwächer wurden.
Zwar hat er nur äußerst selten den bekannten Genrepfad verlassen (abgesehen von „Die Halunken“), aber mit „The Stendhal Syndrome“ bewegt er sich zumindest eine Spur fernab des davor und danach wieder beschrittenen Weges, so daß viele – um auf die Einleitung zurückzukommen – dem Film eher ablehnend gegenüberstehen. Ja, er ist in gewisser Hinsicht ein Giallo, jedoch nur angerissen. Vielmehr werden wir Zeuge von Argentos einzigem Psychodrama. Erstmals interessiert er sich für seine Figuren – oder besser ausgedrückt: für seine Hauptfigur – und baut sie zu einem greifbaren Charakter aus, der nicht bloß vernachlässigenswerter Handlanger ist, um sich der Optik und kunstvoll gestalteten Mordtableaus um ihn herum voll und ganz unterzuordnen. Die Gewaltausbrüche sind dreckig-realistisch, nicht stilistisch überhöht oder des Effekts wegen stilvoll übertrieben. Und die Kamera fokussiert fast ununterbrochen auf Argentos Tochter Asia und läßt ausschließlich Figuren aus ihrem Umfeld sterben, es gibt keine beliebigen Opfer, mit denen sie nichts zu tun hätte. Das alles macht „The Stendhal Syndrome“ allerdings nicht schlecht oder gar langweilig, wie nicht wenige behaupten, sondern zum für mich reifsten und besten Argento, nicht ohne Schwächen und untypisch für ihn zwar, doch ungemein intensiv, spannend und vor allem rund.
Alles anders macht der Regisseur nun jedoch auch nicht. Im Gegenteil: Auch „The Stendhal Syndrome“ enthält Bilder von betörender Schönheit, läßt Anna, die Hauptfigur, in Gemälde eintauchen, sie mit ihnen zerfließen. Bereits in der fast völlig stummen Eingangssequenz, die zugleich einen kalten Start darstellt, weil wir zu diesem Zeitpunkt weder etwas über die sich ständig umsehende Anna wissen noch ihre Beweggründe kennen, warum sie die Uffizien aufsucht, werden wir ähnlich wie sie von den Eindrücken der Gemälde und Fresken an den Wänden und Decken sowie Skulpturen nahezu erschlagen, zumal die Tonspur dies noch durch zu den Gemäldeinhalten passende Geräusche z.B. von Windböen (bei einem Blick auf „Die Geburt der Venus“ von Sandro Botticelli) oder Pferdegetrappel (bei Bildern, auf denen Pferde abgebildet sind) verstärkt, wie sie Anna kurz vor ihrem Zusammenbruch wahrnimmt, ganz so, als würden die Bilder flüstern.
Schon hier setzt sich der repetitive Score von Ennio Morricone, der erstmals seit „Vier Fliegen auf grauem Samt“ wieder die Musik für einen Argento-Film schrieb, wie ein Blutegel im Gehörgang der Zuschauer fest – ein gleichfalls wundervolles wie unheimliches Hörerlebnis, in dem die immergleichen Töne mit dem Klagegesang einer Frau kombiniert werden, das Geschehen dabei so perfekt unterstützend, daß ein Großteil der Wirkung Morricone zugeschrieben werden darf. Die Musik ist bis zum Schluß ein treuer Begleiter, arbeitet mitunter minutenlang im Hintergrund vor sich hin und treibt die Story voran. So einprägsam die besten Stücke von Goblin für Argento auch waren – sie wirkten oftmals deplaziert und wiesen in vielen Fällen wenig Gespür für die Stimmung des Films auf, waren der berühmte Elefant im Porzellanladen. Morricone hingegen war in der Lage, das Thema und die Atmosphäre zu verinnerlichen und schuf mit diesem Score ein Meisterwerk für sich.
Die sperrige Exposition macht den Zugang zugegebenermaßen nicht unbedingt leicht, und kaum hat man erfahren, was hier eigentlich los ist, folgt die erste von mehreren Vergewaltigungen in diesem Film, die Anna über sich ergehen lassen muß und den eigentlichen Plot in Gang setzt: die Auseinandersetzung Annas mit diesem traumatischen Erlebnis. Der geschundenen Seele werden noch weitere Wunden zugefügt, indem ihr Peiniger in der Mitte des Films noch einmal zuschlägt, noch gnadenloser, und als „The Stendhal Syndrome“ plötzlich ein großes Ausrufezeichen an der Stelle setzt, wo normalerweise andere Filme enden (und wahrscheinlich andere Argentos auch geendet hätten), geht er noch eine Dreiviertelstunde weiter, schließlich geht es hier um Anna, nicht um den vergewaltigenden Killer. Sie verändert sich in der Folge noch mehr: War ihre erste Reaktion das Abschneiden ihrer langen Haare, um sie vermutlich für die Männerwelt unattraktiver zu machen, so setzt sie sich nun eine überdeutliche blonde Perücke und eine Sonnenbrille auf, in ihren Gefühlen ständig hin- und herschwankend zwischen ihrem alten und ihrem neuen Ich, denn es ist ja klar, daß sie seelisch nicht ungeschoren davonkommen konnte nach allem, was ihr widerfahren ist. Eine immer geringere Rolle spielt dabei übrigens das titelgebende und wirklich existierende Stendhal-Syndrom, es führt lediglich gleich zu Beginn als eine Art „psychischer MacGuffin“ an die Geschichte heran und wird noch vor dem letzten Drittel überwunden.
Worauf das letzten Endes hinausläuft, weiß der geübte Vielseher, bereits lange bevor auch der Film es endgültig ausbuchstabiert – es wird sogar im ersten Gespräch mit dem Psychiater sehr offen angesprochen, so daß man irgendwie nicht glauben mag, Argento würde hier ernsthaft einen Überraschungseffekt anstreben wollen, selbst wenn er so ein Geheimnis daraus macht –, und auch an die Gutgläubigkeit der Zuschauer wird aus logischen Gesichtspunkten an der einen oder anderen Stelle appelliert, aber Anna in den letzten 20 Minuten emotional langsam völlig zusammenbrechen zu sehen, jeden fürchtend und verdächtigend, der ihrer Wohnung spät abends zu nahe kommt, um im nächsten Moment doch wieder teilnahmslos in ihre neue Rolle zurückzufallen, lohnt die kleine Durststrecke und gewisse Vorhersagbarkeiten, die „The Stendhal Syndrome“ bis dahin zurücklegt. Der Zuschauer wird am Ende in eine durchgehend angespannte Situation versetzt, die sich erst in einer zu Herzen gehenden Schlußszene löst, in der die Hauptfigur endlich das bekommt, wonach sie in ihrem Leben lange vergeblich gesucht hat, nämlich menschliche Wärme in dem kalten und ausschließlich männlichen Polizistenumfeld, auch wenn sie diese in ihrer psychisch angeknacksten Verfassung nicht wertschätzen kann. So bleibt man mit einem seltsamen Gefühl nach dem Ende zurück, das man wahlweise als positiv oder negativ deuten kann, in jedem Fall aber offen bleibt.
Wer auf wunderschön visualisierte Morde hübscher Frauen spekuliert, dürfte wie gesagt enttäuscht sein, was nicht heißt, daß es nicht derb zur Sache gehen würde. „The Stendhal Syndrome“ ist sogar einer der härteren Argentos (nach „Tenebre“ und „Terror in der Oper“), bietet neben den Vergewaltigungsszenen den einen oder anderen deftigen Gewaltausbruch (Augeausstechen inklusive – autsch), bei dem aber Realismus Trumpf ist und der sich logisch aus dem Vorangegangenen ergibt. Zur zweiten Hälfte fährt Argento die Brutalität sogar merklich zurück, läßt die Morde im Off geschehen und zeigt nur die Ergebnisse. Ein weiteres Zeichen dafür, daß es ihm hier nicht allein auf die äußeren Schauwerte ankam. Wenig gelungen und wie ein Fremdkörper die Sekundenbruchteile eingestreuten computergenerierten Effekte, deren Einsatz sich mir auch nicht erschließt. War es am Ende der einzige Grund, Geschichte zu schreiben und der erste italienische Film zu sein, der sich der Möglichkeiten des CGI bediente?
Asia Argento spielte nach „Aura“ ein zweites Mal für ihren Vater und es ist leicht, sie als Fehlbesetzung abzustempeln, nimmt man ihr die Polizistin doch allein aufgrund des außerordentlich jungen Alters (21) nicht ab. Zu Beginn meint man ihr auch die Unsicherheit und Unerfahrenheit am Gesicht ablesen zu können, doch interessanterweise wird sie von Minute zu Minute besser, je diffiziler ihre Rolle wird – und damit sind nicht nur die Vergewaltigungsszenen, sondern auch die Vielschichtigkeit ihres Charakters gemeint –, und erzeugt echtes Mitleid. Dahingegen ist der blondierte Thomas Kretschmann ein überzeugender und abstoßender Psychopath, dem die Widerlichkeit aus jeder Pore tropft. Ein Totalausfall leider Marco Leonardi als Annas Ex-Freund, der nun wirklich exakt eine der Flachpfeifen ist, die Argentos Filme so häufig bevölkern.
Nicht so doll gelungen zudem so mancher Dialog und ziemlich schwach leider auch die deutsche Synchronisation, aber für Letzteres kann Argento ja bekanntlich nichts. Übrig bleibt im Original ein mehr als beachtlicher Film, der zu Unrecht ein eher stiefmütterliches Dasein im Schaffen des sonst so gern auf seine optischen Sperenzchen reduzierten Regisseurs fristet. Es sind gewiß vielschichtigere Psychogramme entstanden als „The Stendhal Syndrome“; aber in Sachen Atmosphäre, Musik und am Ende sogar Intensität macht ihm keiner was vor. Zugleich traurig, weil die womöglich letzte Qualitätsarbeit Argentos. 8/10.