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"Das Stendhal Syndrom" markiert den Neustart Argentos nach seinem mißglückten Versuch, als Regisseur mit "Aura" in den Vereinigten Staaten seine Vision des Thrillers zu verwirklichen. Der Ausflug nach Amerika gestaltete sich eher frustrierend und das Ergebnis fiel schlechter als die hoch gesteckten Erwartungen aus.
Die Rückkehr nach Italien bot einen Rückzug in die kreative Heimat, die Argento zu diesem Zeitpunkt, als die italienische Filmindustrie nach den furchtbaren 80ern wirklich am Ende angekommen war, was Genrefilme betraf, noch als inszenatorischen Meister ansah und entsprechend willkommen hieß. So war der Jubel groß, als drei Jahre nach "Aura" "Stendhal" endlich in den Startlöchern stand.

War "Aura" eher eine Amerikanisierung bekannter Versatzstücke aus früheren Giallos Argentos gewesen, so bietet "Stendhal" einen ganz anderen Ansatzpunkt. Argentos Vorliebe für Kunst vergangener Jahrhunderte von bekannten Bildhauern und Malern, die in einem abstrakten Kontrast die Verlorenheit der menschlichen Figuren vor der Überlebensgröße symbolisieren, ist auch hier aktiv. Als erster Filmemacher erhielt Argento die Erlaubnis, einige Filmszenen in den Uffizien von Florenz zu drehen, was bisher jedem Regisseur verweigert worden war. Davon wird bereits in den ersten Szenen ausgiebig Gebrauch gemacht, als die Protagonistin Anna Manni bei einem Rundgang, im Zuge der Hitze und des Stresses vieler Leute einen Zusammenbruch durch die überwältigenden Eindrücke der ausgestellten Kunstgegenstände erleidet. Mittels musikalisch verstörender Tonkulisse erweckt Argento überintensive Ausstrahlungen der Gemälde, die inclusive eines beständigen Flüsterns fast zum Leben erweckt werden, so daß Anna mittels Tricktechnik schließlich in eine Meeresszenerie "eintauchen" kann. Daß sie eigentlich Polizistin ist und hofft, im Museum einen Serienvergewaltiger und Mörder zu verhaften, weiß das Publikum da noch nicht - daß der Täter jedoch auf sie aufmerksam geworden ist und den Kontakt zu der im Anschluß total verstörten und verwirrten Person sucht, ahnt man bald.

Dennoch ist "Stendhal Syndrome" kein klassischer Giallo, wie man es vielleicht erwarten konnte, er ist vielmehr ein sehr persönlicher Film, der die überwältigende Wirkung von Kunst zelebriert, während ein psychologisches Thrillerdrama im Vordergrund abläuft, dessen Tiefenwirkung erst nach und nach enthüllt wird.
Zwar gibt es Morde und Todesfälle, jedoch fallen typische Elemente und ein Großteil der Fetischisierung hier über weite Strecken flach.
Darüber hinaus führt Argento nicht, wie in den frühen Jahren gern, einen haarsträubenden genetischen Grund als Auslöser für den Täter an, sondern beruft sich auf ein tatsächlich medizinisch erfaßtes Krankheitsbild, einen überwältigten Erschöpfungszustand, der in manchen Fällen empfindlicher Menschen (wie im 19.Jahrhundert der namensgebende Dichter Stendhal) bei dem Genuß von Kunst ausgelöst wird. Angeblich hatte Argento selbst einmal als Kind so eine Attacke, was dann auch seinen Niederschlag in der Storyline des Films findet.
Doch abseits von diesem Phänomen entwickelt Argento hier eine für ihn relativ ungewöhnliche Komplexität. Im Zentrum steht nicht die Jagd auf den Vergewaltiger, sondern im Umkehrschluß die Bedrohung der Polizistin durch den Täter, der ihren "Krankheitszustand" und ihre psychische Schwächung ausnutzt, um sie zu vergewaltigen und sie zum Zeugen eines weiteren Mordes zu machen. Daraufhin nimmt er ihre Verfolgung auf, während sie bemüht ist, psychisch das Vergangene mittels einer Therapie aufzuarbeiten.

Letzteres führt jedoch nicht zu wirklich normalen Ergebnissen, denn die fiktive Interaktion des Syndroms und Überwältigung durch den sadistischen und selbstverletzenden Täter, sorgen für unvorhersehbare Folgen.
Anna, bis dahin eher typisch weiblich gezeichnet, gewinnt in der Folge immer männlichere Züge, schneidet sich die Haare kurz und verändert ihre Kleidung in Richtung Hosenanzüge. Dazu erwacht in ihr eine gewisse Agressivität zum Leben, die allerdings noch andere Hintergründe haben könnte. So geschickt wie beiläufig führt eine "Erholungsfahrt" in ihre Heimatstadt nämlich zum psychologischen Ergänzungsstudie einer psychisch angreifbaren Person. Die emotional-künstlerische Seite der Mutter ist verstorben, der Vater ist emotional ein kaum entwickelter Kühlschrank, darüber hinaus hat sich die junge Frau hauptsächlich mit männlichen Freunden umgeben, boxt in der Sporthalle und hat auch sonst kaum typisch weibliche Verhaltensweisen, wie sie etwa in Italien zu erwarten wären.
Parallel dazu erweist sich die italienische Polizei in Rom als eine typische Männerhochburg, in deren robuster Umgebung die zierliche Anna wie ein Fremdkörper wirkt, die sich nur mittels ausgeprägter männlicher Merkmale durchsetzen kann.
Andere Frauen treten in diesem Film meistens nur als Opfer, Prostituierte oder bei der Polizei als Streifenbeamtinnen auf - die Identitätskrise nach der Vergewaltigung ist also mehr als vorprogrammiert, da der Umgang fast ausschließlich männlich bleibt. Auch Annas Freund, typischerweise ebenfalls ein Polizist, zeigt sich mit der Situation wie mit dem emotionalen Umgang überfordert. Innerlich noch mehr Junge als Mann kann er die Triebhaftigkeit nicht ganz unterdrücken und die Verspieltheit und Hilflosigkeit aufgrund des komplexen Traumas deuten schon die mangelnde Reife an.

Der Wendepunkt ist dann die zweite Entführung und erneute Vergewaltigung, die das Trauma vertieft und die Identitätskrise zu einer ausgewachsenen Persönlichkeitsstörung reifen läßt, die männliche Anna verschwindet unter einer neuen künstlichen Schicht aufgesetzter Weiblichkeit, hinter Sonnenbrille, einer blonden langhaarigen Perücke und lasziver Raucherei, während ihr nächster menschlicher Kontakt als Kontrast ein feinsinniger Kunststudent aus Frankreich ist.
Dazwischen liegt jedoch die Tortur des monströsen Mißbrauchs durch einen rasierklingenlutschenden Perversen auf einer alten Matratze in einem abgelegenen Junkieversteck, eine rabiate Sequenz, die mehr als nur ein ungutes Gefühl zurückläßt und so realistisch gefilmt ist, daß man automatisch zurückschreckt.

In all das spielt jedoch auch das Erschöpfungssyndrom hinein, das dazu führt, daß Anna etwa in ein Breughelgemälde oder Rembrandts Nachtwache eintaucht, um sich darin beinahe zu verlieren, optische und tricktechnische Highlights, für die man erstmals CGI verwandte, speziell auch bei den erwachenden Graffittimonstren in dem Junkie-Bunker.
Natürlich ist das nicht unbedingt wirklich psychologisch schlüssig, Argento setzt auf den unabsehbaren Effekt der Kombination verschiedener Einflüsse und erschafft im letzten Drittel daraus ein zunehmendes Psychodrama, daß schon eher Giallo-Standards Rechnung trägt. Ausgerechnet an diesem Punkt gerät der Film dann auch ein wenig aus den Fugen, denn nicht nur wird hier zu dick aufgetragen, der Plot krankt plötzlich auch an zunehmender Vorhersagbarkeit und wirkt unfertig, wenn verschiedene (männliche) Figuren Probleme haben, offensichtliche Zusammenhänge nicht zu erkennen, selbst als sie ihnen offenbart werden.

Der Clou des Films liegt natürlich in der Besetzung der Hauptrolle, da Argento (nach dem Scheitern seiner Wunschvorstellungen bezüglich bekannter Darstellerinnen wie Bridget Fonda oder Darryl Hannah) hier seine eigene Tochter ablichtet, wie sie gleich mehrfach graphisch vergewaltigt wird, aufgeschnitten und in Blut getaucht wird, sich nackt in düsteren Farben wälzt oder sich in ein psychisches, männerhassendes Wrack verwandelt, eine optische und emotionale Tour-de-Force, die nicht einfach zu ertragen und sicher auch nicht zu spielen war.
Das führt dann auch dazu, daß die graphische Gewalt typischerer Giallos hier nicht Dreh- und Angelpunkt des Interesses ist, sondern anhand verschiedener zentraler Einzelfälle wichtige Wendepunkte des Plots markiert. Die kleinen optischen Schmankerl, wie das Fallen von Beruhigungstabletten durch eine computergenerierte Speiseröhre und der Flug einer Kugel durch einen geöffneten Mund scheinen wie unnötige Ergänzungen, können aber auch als Penetrationssymbolik gesehen werden. Kontrapunkt zu der dunkelhaarigen Anna (und ihren ebenso typisch südländischen Kollegen) ist der eigentliche Täter Alfredo, ein blondes, durchtrainiertes und manisches Monstrum, das Thomas Kretschmann mit fast schon beängstigender Intensivität spielt, verachtenswert und abartig zugleich.

So wird "Stendhal Syndrom" zu Argentos psychologischstem Film, wenn auch bei weitem nicht ausgereift, dann aber doch tiefergehend, was die sonst doch so oberflächlichen Figuren seiner Filme anbetrifft. Bei aller Uneinheitlichkeit ist er optisch doch mehr als erinnerungswert und weist viele Sequenzen auf, die man nicht so leicht vergißt, wobei der Verzicht auf visuelle Überflüssigkeiten des normalen Giallo dem Psychodrama neuen Zucker gibt.
Alles in allem ein beachtlicher Neustart, dem vom Regisseur in der Folge jedoch kaum Rechnung getragen wurde, bevor er kreativ selbstzitierend auf Grund lief. (7,5/10)

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