Review

Jeder hat seine eigenen, individuell bedingten Gründe, Rainer Werner Fassbinders Filme zu lieben oder zu hassen. Die einen schätzen die präzisen Studien der proletarischen Gesellschaftsschicht im Deutschland der 70ziger, die anderen das intensive emotionale Erlebnis oder die bemerkenswert natürliche Schauspielführung. Ich für meinen Teil schätze all dies selbstverständlich sehr doch in erster Linie ist mir Fassbinder durch seine kompromisslose und wahrheitsliebende Analyse von Gruppenverhalten sowie dessen Mechanik und Antriebskraft ans Herz gewachsen. Ein unvergessliches, in seiner Suggestivität und radikalen Konsequenz erschlagendes Beispiel für dieses Talent des Regisseurs ist der autobiografisch angehauchte „Faustrecht der Freiheit“.

Ziehharmonika-Musik. Ein Rummelplatz. Ein Mann, der einige leicht bekleidete Damen einer neugierigen Menge vorführt. Die Polizei unterbricht diese Fleischbeschauung und verhaftet den Mann. Bevor er abgeführt wird betritt ein anderer schockiert die Bühne und drückt dem Schausteller mit Namen Klaus einen fassungslosen Abschiedskuss auf die Lippen. Es ist Franz Bieberkopf (Fassbinder), wegen seiner Attraktion als sprechender Kopf von seinen Freunden „Fox“ genannt.

Franz ist ein einfacher, kompakter junger Mann aus der Arbeiterschicht. Sein Geld verdient er sich neben seiner Arbeit auf dem Rummel gelegentlich auch auf dem Straßenstrich. Einmal wöchentlich investiert er fünf Mark in einen Traum, an dessen Erfüllung er fest glaubt: Das Lotto. Und siehe da- kurz nach dem ihn der freundliche Antiquitätenhändler Max (Karlheinz Böhm) an einer öffentlichen Toilette aufgelesen und an einem Kiosk abgesetzt liegen 500.000 Mark auf seinem Konto. Das Glück war ihm hold. Oder?

Über allen analytischen Ansätzen anhand derer sich in „Faustrecht der Freiheit“ ein Sammelsurium kluger Beobachtungen auftut lässt er sich ganz direkt als Therapie verstehen: Fassbinders Film ist ein Lehrfilm, bestens geeignet um den Zuschauer von allen materialistischen Tagträumen zu heilen. Mit dem Lottogewinn betritt Franz eine Wendeltreppe in den Abgrund ohne dass Fassbinder dabei an ihn oder sein Umfeld eine konkrete Schuldzuweisung machen würde obgleich alle Sympathien Franz gehören und der Film klar nach einem schlichten Gut-Böse-Schema funktioniert. Hier zeigt sich auch Fassbinders Vorliebe für die Melodramen des in den USA zu Ehren gekommenen deutschen Regisseurs Detlef "Douglas" Sirk.

Dabei beginnt Franz’ Leidensweg fast zufällig: Im Haus von Max begegnet er Eugen (Peter Chatel), dem Sohn eines Druckereibesitzers, und dessen Freund Philipp (Harry Baer) . Die beiden geben Max naserümpfend zu verstehen was sie von seiner ungehobelten, ordinären Errungenschaft halten. Bereits hier wird das Komplott beschlossen: Eugen erfährt durch Max von Franz’ jungem Reichtum und noch am gleichen Abend bandelt er mit Franz an. Was anfangs noch nach einer reinen Affäre aussieht wird bald als Manöver erkenntlich. Die Druckerei von Eugens Vater (Adrian Hoven) steht vor dem Konkurs, Geld muss dringend her.

Im Verlauf der folgenden, von Eugens Seite rein ökonomisch und mit scheinheiligen, romantischen Gesten geführten Beziehung wird Franz ausgenommen wie eine Weihnachtsgans. Und er lässt sich willig ausnehmen, verehrt und liebt Eugen der ihm einen neuen Lebensinhalt gibt und ihm durch Manierlichkeit, Bildung und die Möglichkeit, in die Schickeria der Münchner Schwulenszene aufzusteigen, imponiert. Wie in Fassbinders zuvor entstandenem Ehedrama „Martha“ wird anfangs in gegenseitigem Einverständnis gegeben und genommen.
Immer weiter bindet Eugen den unsicheren Franz an sich der ihm in hündischer Ergebenheit folgt und die gewaltigen Investitionen, die Eugen mit seinem Geld tätigt, nur kleinlaut hinterfragt. Im Grunde ist Eugen also augenscheinlich der Mann, auf den der labile Franz mit seinen schlichten Idealen Zeit seines Lebens gewartet hat. Doch gerade unter Eugens abartigen, oberflächlichen Idealen und seinem Egoismus leidet Franz Höllenqualen.

Als Proletarier ist er ein unwillkommener Fremdkörper sowohl in Eugens Leben als auch der „feinen Gesellschaft“, in die der ihn notgedrungen einführt. Der pervertierte Verhaltenskodex, in den Franz gepresst werden soll wird von Fassbinder bei aller Authentizität freilich bewusst überzeichnet. Echten Realismus wird man im umfangreichen Werk des jung verstorbenen Regisseurs ohnehin nur selten finden. Gerade in den Sequenzen die sich eingehend mit Franz innerhalb seines neuen Umfelds beschäftigen offenbart sich die für Fassbinder typische, strenge Stilisierung einer vereinfachten Realität die vom Zuschauer wiederum als Naturalismus angenommen werden soll und wird.

Eugen ist ein formvollendeter Widerling, zerfressen von Egoimus und einem mittelalterlichen Gesellschaftsbild in Kasten. Franz ist für ihn nicht einmal mehr ein Mensch sondern nur ein ungebildetes und unzivilisiertes Objekt mit dem man bedenkenlos umspringen kann da er „ohnehin zu stumpf ist um Emotionen zu empfinden“. Die eisige Kälte gegenüber Franz schockiert am Ende sogar seinen einst ebenso arrogant agierenden Freund Philipp- die Beziehung zu ihm hat Eugen nie unterbrochen- der sogar eine Spur von Schuldbewusstsein an den Tag legt.
Das System mit dem Eugen, seine Familie und Freunde Franz zermürben ist ein einfaches. Anfänglich wird der Ärmste permanent verunsichert und gezwungen, sich durch lächerliche Gesten sein Gesicht zu wahren, dann wartet man geduldig auf den nächsten Fehler den er in dieser Verfassung begeht- um ihm dann ein weiteres Stück Fleisch aus den Rippen zu schneiden und noch weiter zu verunsichern. Franz’ blinde Liebe zu Eugen verhindert bis kurz vor Schluss das er ihre Beziehung reflektiert und die Unfehlbarkeit des herzlosen Eugen anzweifelt. Nur einmal, auf der Einweihungsfeier der von Eugen ohne Rücksicht auf Franz’s Wünsche barock und kostspielig (mit Franz’ Geld) eingerichteten Wohnung, kommt es zur Eruption als Franz’ betrunkene Schwester Hedwig (Christine Maybach) die „feinen Pinkel“ offen anklagt. Pikiert über die „hässliche Proletarierin“ macht Eugen seinem Partner Vorhaltungen- worüber dieser die Beherrschung verliert. Doch kurz darauf ist er wieder handzahm und gibt Eugen Gelegenheit, sein sadistisches Spiel weiter zu führen.

Als Eugen die Maske immer weiter fallen lässt, sein Verhalten immer eisiger wird und seine Pedanterie gegenüber Franz’ „mangelnder Kinderstube“ („Nein! Der Weißwein wird erst zur Forelle getrunken, wie oft muss ich dir das noch sagen?“) immer perversere Formen annimmt die für sich betrachtet die gewöhnliche Art von Franz an Asozialität um ein vielfaches übertrifft, versucht der Missbrauchte, Geschundene und Ausgenommene endlich, aus dem Bannkreis von Eugen und dessen Welt auszubrechen. Doch es ist bereits zu spät. Das Konto ist leer, die von ihm bezahlte Wohnung durch eine hinterhältige Intrige in Eugens Besitz übergegangen, das Darlehen, das er an dessen Vater und die Druckerei gemacht hat erhält er nicht mehr zurück und nach einem Streit setzt ihn auch Hedwig („Du Versager, du taugst zu nichts“) vor die Tür- um ihn gleich darauf schlechten Gewissens zurück zu rufen was er aber nicht mehr hört.

Weiße Fliesenwände. Eine U-Bahnstation. Auf dem Boden liegt ein Mann. Neben ihm eine Dose mit der Aufschrift „Valium“. Auf seiner Jacke steht „Fox“. Zwei andere Männer kommen vorbei, Klaus und Max. Als sie merken dass der Mann mit Namen Franz tot ist verlassen sie seine Leiche fluchtartig. Sie wollen nichts damit zu tun haben. Auch Klaus, der von dem Mann 30.000 Mark bekommen hatte. Zwei Kinder finden den Mann. Als sie merken dass er tot ist durchsuchen sie seine Taschen und nehmen all sein Geld. Wie die Aasgeier. Dann ziehen sie auch seine Jacke aus und nehmen sie mit. Ziehharmonika-Musik. Ende.


Rainer Werner Fassbinder bezeichnete „Faustrecht der Freiheit“ einst als seinen ehrlichsten Film. Autobiographische Anklänge müssen eingeflossen sein, denn so wie er die (wenn man so will) drei verschiedenen Milieus- Schwulenbar / Sozialbauwohnung / High Society- schildert, die dort verkehrenden Menschen darstellt und Sympathien in unterschiedlicher Konzentration an diese drei Welten vergibt muss er auch jede von ihnen kennen gelernt und studiert haben. Denn die Schwulenbar, der Rummel und die Straße sind ihm zwar hoffnungsloses, aber sonniges Paradies, die Sozialbauwohnung das Fegefeuer der Verzweiflung und die schwule Schickeria schließlich die Hölle selbst, beherrscht von sexuellem und materiellem Egoismus, Falschheit und Kaltherzigkeit. Mit letzterem Zirkel, im Film der Dunstkreis um Eugen und Max rechnet Fassbinder- selbst homosexuell- mit unnachgiebiger Härte ab. Schließlich spielt auch er selbst hervorragend den Franz Bieberkopf.

Überhaupt wäre Fassbinders auf Film angewandtes psychoanalytisches Talent ihm nie zugute gekommen wenn er nicht auch bei seinen Besetzungen ein derart glückliches Händchen gehabt hätte. Dem Franz Bieberkopf hat er hier selbst Profil verliehen was wohl kein Schauspieler besser hätte meistern können. Peter Chatel ist nicht minder brillant als engstirniger, rücksichtsloser Sohn aus spießbürgerlichem Hause und Karlheinz Böhm der hier ebenso wie in „Martha“ vollkommen gegen den Strich besetzt ist muss wohl nicht gesondert hervorgehoben werden. Spätestens mit „Peeping Tom“ hat Böhm zu seinem populären Nachteil das Schwiegermutterkompatible Image des braven Buben abgelegt und sich als großartiger Charakterdarsteller profiliert und darf auch hier mit einer diabolischen, unaufdringlichen Würde glänzen. Daneben sieht man zahlreiche alte Bekannte, die Fassbinder immer wieder einsetzte- unter anderem auch seinen Freund El Hedi ben Salem, Barbara Valentin und Brigitte Mira, die er ein Jahr zuvor in seinem bis heute wohl bekanntesten Werk „Angst essen Seele auf“ als Hauptdarsteller zusammenführte. Sie alle werden von keinem geringeren als Michael Ballhaus brillant fotografiert, der inzwischen seinen Weg nach Hollywood und zu Martin Scorsese (zuletzt mit „The Departed“) gefunden hat.

Rainer Werner Fassbinders Mär vom kleinen Mann auf der Suche nach einem kleinen Glück, dem die „Reichen“ alles nehmen ist ein zeitloser Geniestreich der in vielen Momenten auch später entstandene Klassiker des „New Hollywood“ vorwegnimmt. Auch heute noch ist „Faustrecht der Freiheit“ ein schmerzhafter Faustschlag in die Magengrube des Zuschauers, der während der Sichtung sicherlich mehr als einmal die Faust ballen wird. Trotz all der Wut und negativen Erinnerungen die der zurecht auch im Ausland hoch angesehene Regisseur im Film gebündelt hat bleibt sein Blick auf eine von abscheulichem Egoismus, Lügen und Mitleidslosigkeit getriebenen Gesellschaft, die den Individualismus verdammt und in einer realitätsfernen Klassentrennung lebt, sachlich und konzentriert. In den aufmerksamen Beobachtungen Fassbinders liegt viel Wahrheit die heute wie damals bedingungslose Gültigkeit besitzt. Schade dass das nur die wenigsten erkannt haben.

Bis heute wird Fassbinder nur selten angemessen begegnet. Weder zur kopflastigen, filmwissenschaftlichen Analyse, noch zum Konsum auf rein emotionaler Basis sollten seine Filme verwendet werden. Vielmehr sind sie einfach zum sehen und beobachten gedacht. Und trotz aller gelegentlich theatralischen Übertreibung wird man dabei sehr viel Vertrautes, Reales beobachten und sich und seine Umwelt im besten Falle- wenn man besonders genau hingesehen hat- auch ein Stück weit selbst erkennen.
Wir können sehr stolz darauf sein das unser Land einen Meisterregisseur wie Rainer Werner Fassbinder hervorgebracht hat.

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