Manchmal möchte ich wieder Kind sein.
Es ist nicht so lange her, da gab ich endlich einem seit Monaten wie ein Geist durch meinen Kopf spukenden Gedanken nach und griff eine Kassette aus dem mittlerweile fast völlig eingestaubten Archiv der letztmals als kleiner Steppke von mir besichtigten Videofilme, um alte Kindheitserinnerungen neu aufleben zu lassen. Meine Wahl fiel auf „Tom, Crosby und die Mäusebrigade“, einen 70er-Jahre-Zeichentrickfilm aus Japan, den ich mir früher immerhin so oft angeschaut haben muß, daß ich den Inhalt auch heute noch ohne Schwierigkeiten hätte nacherzählen können.
Wie aus dem deutschen Titel nicht einmal erahnbar handelt es sich bei „Tom, Crosby und die Mäusebrigade“ um eine Version des berühmten altenglischen Märchens „Hans und die Bohnenranke“ (englisch: „Jack and the Beanstalk“). Darin tauscht ein Bauernjunge die letzte Kuh seiner verwitweten Mutter gegen fünf Zauberbohnen, aus denen des Nachts eine riesige Ranke wächst. Der neugierige Junge klettert sie hinauf und taucht damit mitten hinein in ein fremdes Land über den Wolken, wo ein bösartiger Riese herrscht.
Regisseur Gisaburo Sugii und Co-Autor Hirami Shuji behielten die Ausgangslage des Märchens bei, stellten Jack bzw. im Deutschen Tom jedoch mit dem knautschgesichtigen Hund Crosby einen tierischen Begleiter zur Seite, sicherlich in der weisen Voraussicht, daß Tiere bei Kindern schon immer gut angekommen sind. Auch in der grobschlächtigeren deutschen, mit einem eigenen auf flippig getrimmten Vorspann versehenen Fassung, in der alle Tiere sprechen können, während sie im Original entweder stumm bleiben oder unverständliches Kauderwelsch von sich geben, wird zunächst fraglos mit den heiteren Bauernhof-Episoden auf die ganz Kleinen im Publikum gesetzt. Doch es hat schon seinen Grund, warum mir „Tom, Crosby und die Mäusebrigade“ als grundlegend anders als die Disney-Produktionen im Hinterkopf hängen geblieben ist: Der Film kann sich einfach nicht entscheiden, welche Zielgruppe er ansprechen möchte, denn es dauert nicht lange, bis der fast schon kalauernde Grundton eine komplett andere Richtung einschlägt und eine Aneinanderhäufung unheimlicher, teilweise psychedelischer, teilweise richtiggehend grausamer Bilder in Gang setzt, nämlich ab dem Zeitpunkt, als Tom und Crosby das Wolkenreich erklimmen.
Dort dominiert das triste Grau, bunte Farben fehlen weit und breit. Tom und sein Hund werden von einer seltsam emotionslosen Prinzessin in Empfang genommen, die so wirkt, als stünde sie unter Drogen, und dementsprechend wirres Zeug daherredet. Sie erzählt von einem hübschen Prinzen namens Tulpe, den sie schon morgen zu heiraten gedenkt, der sich allerdings in Wirklichkeit nur kurze Zeit später als häßlich-bösartiger Riese entpuppt. Der könnte theoretisch schon als Antagonist reichen wie in der Vorlage, aber Sugii und Shuji setzen noch einen drauf, indem sie Tulpe eine Mutter geben, die Madame Noir (im Original Hecuba) heißt und Böses im Schilde führt: Sie hat die Prinzessin verhext, um diese dazu zu bekommen, ihren Sohn zu ehelichen, damit sie finstere Herrscherin über das Wolkenland werden kann. Fürwahr: Jeder ihrer Auftritte verkommt zu einer echten Horrorshow. Nicht nur hat sie das angemessen furchterregende Äußere verpaßt bekommen (komplett in Schwarz gekleidet, kalkweiße Haut, spitze Zähne, unheimliche Augenpartien), nein, sie wird auch stets mit einem schrillen Musik-Cue angekündigt, der durch Mark und Bein geht. Als sie von den Eindringlingen erfährt, ist es ihr Ziel, Tom in einen Kochtopf zu packen und als Hochzeitsmahl zu verspeisen.
Das alles dürfte schon zu viel sein für den einen oder anderen zuschauenden Knirps, auch wenn weiterhin fleißig versucht wird, mit allen möglichen Niedlichkeitselementen, wie piepsenden Mäusen, die slapstickhaft den Riesen zu bekämpfen versuchen, oder einigen fröhlichen Liedern, der allgegenwärtig düsteren Stimmung entgegenzuwirken, von der sich der Film allerdings erst wieder in der Schlußszene befreien kann. So hat „Tom, Crosby und die Mäusebrigade“ hierzulande fälschlich den Stempel „Kinderfilm“ aufgedrückt bekommen, weshalb er auch in der Vergangenheit schon häufiger im Nachmittagsprogramm lief. Ich gebe zu, mit „Tom, Crosby und die Mäusebrigade“ keinerlei traumatische Erlebnisse zu verbinden (sonst hätte ich ihn wahrscheinlich auch nicht so häufig gesehen), und es wird genügend Kinder geben, denen er ähnlich wenig wie mir ausmachen wird, allerdings müssen es die Eltern ja nicht unbedingt drauf ankommen lassen.
Die Schreckensszenen beiseite gelassen leidet der Film unter dem grundsätzlichen Problem, daß Tom, der potentielle Held dieser Geschichte, dessen Aufgabe es ist, das Wolkenland von Madame Noir und ihrem dummen tölpelhaften Sohn zu befreien, selbst ein frecher, egoistisch denkender Bauernlümmel ist, dem man zwischenzeitlich öfters nur allzu gern eine rechts, eine links – wahlweise auch andersrum – scheuern möchte, verschlimmbessert noch durch seine streckenweise extrem anstrengende und ätzende deutsche Synchronstimme. Er stiehlt das Gold anderer Leute, hat keine Manieren, schreit viel rum und ist auch intelligenzmäßig nicht sonderlich gut bestückt (er steht Tulpe in der Beziehung nur in wenig nach). Erst spät entdeckt er sein gutes Herz. Darum verwundert es letztlich auch nicht, daß er bei seiner Befreiungsaktion am Ende nicht mit List und Tücke vorgeht, sondern ein gar infantiles Liedchen trällert, um Tulpe zur Weißglut zu treiben.
Wo der Film wirklich zu beeindrucken versteht, ist der Einfallsreichtum in den Zeichnungen. Man sollte nicht den Fehler begehen und sie mit den farbenfrohen, sehr detailreichen Disney-Werken à la „Susi und Strolch“ vergleichen, aber den Zeichenstil von „Die Hexe und der Zauberer“ bringt er auf alle Fälle mit: Die Figuren sind konturenreich genug gezeichnet, um nicht zu enttäuschen, es gibt abwechslungsreiche Perspektivwechsel, die eine gewisse Eintönigkeit gar nicht erst aufkommen lassen, und die Atmosphäre kommt ebenfalls sehr gut rüber. Die Szene, in der Madame Noir das Wolkenreich wegzaubert und sie nur noch mit Tom und der Prinzessin vor schwarzen Wolken und unter heftigem Donnergrollen und Blitzen auf einer frei in der Luft schwebenden Platte steht, hat es mir besonders angetan.
Weiterhin hervorhebenswert sind – Überraschung, Überraschung – die recht zahlreichen Songs. Diese werden bei Disney ja von einigen gern als Schwachpunkte bezeichnet, weil sie oftmals allzu süßlich geraten, hier sind in der Tat sie es, die sich am stärksten in meinem Kopf eingebrannt haben, sogar so sehr, daß ich eine Vielzahl der Texte nach all den Jahren noch größtenteils hätte mitsingen können. Selbstverständlich schlagen nicht alle Lieder wie eine Bombe ein (vor allem Tom hat, wie gesagt, ein besonders enervierendes abbekommen: „Tulpe, du Nulpe!“), dafür erstaunt der Film mit enormer Vielseitigkeit, die Lieder unterscheiden sich vom Stil her teilweise doch stark voneinander: besonders eingängig das Zauberrankenlied, als die Bohnen in den Himmel zu sprießen beginnen, geradezu irrsinnig hypnotisch die surreale Hochzeitszeremonie (zeichnerisch sowieso ein Höhepunkt des Films), in der ein aus Papier gebastelter Pfarrer mit hoher blecherner Stimme die Prinzessin vor dem Altar besingt, um sie mit Tulpe zu verheiraten („Are you happyyy?“), und nicht zuletzt das zauberhaft von der Prinzessin gesungene romantische „Ich bin glücklich und verliebt“ („No One’s Happier Than I“), dessen Melodie im weiteren Verlauf noch häufiger eingespielt wird (mitunter im krassen Widerspruch zu den gezeigten Bildern). Während der Kletterpartien an der Bohnenranke wird sogar an der E-Gitarre gezupft, was nicht unbedingt meine erste Wahl gewesen wäre, aber bei diesem kuriosen Stück Zeichentrickfilm doch irgendwie wie die Faust aufs Auge paßt.
Alles in allem präsentiert sich „Tom, Crosby und die Mäusebrigade“ als ziemlich wilde Mixtur aus kindergartengerechtem Holzhammerhumor und einem gesunden Maß an Gruselszenarien, fröhlich angereichert mit einer Auswahl von Songs unterschiedlichster Musikrichtungen. Man wäre sicherlich besser damit gefahren, hätte man den Film stärker auf die älteren Semester zugeschnitten (so ab 11, 12). Hat man aber nicht, weswegen keine der Zielgruppen gänzlich befriedigt wird. Trotzdem habe ich den Film von Kindesbeinen an gemocht und es war auch jetzt, eine runde Dekade später, wieder schön, in alten Erinnerungen zu schwelgen. Das soll allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß es ihm fühlbar an der den Disney-Werken zu eigen seienden Wärme fehlt und die Moral von der Geschicht’, die in etwa „Wenn du nicht über die nötigen geistigen Kapazitäten verfügst, um einen intelligenten Plan auszutüfteln, provoziere deinen Gegenspieler erst bis aufs Blut und töte ihn anschließend“ lautet, sehr platt ausfällt.
Es gilt, bei der Wertung den Nostalgiebonus einzubeziehen, und da komme ich immer noch auf knappe 7/10.