Friedrich Wilhelm Murnau ist unbestritten einer der einflussreichsten Regisseure aller Zeiten. Wie kein zweiter prägte er den deutschen Stummfilm und nahezu jedes seiner erhaltenen Werke gilt als cineastischer Schatz. Als Murnau in die USA ging sah es zunächst so aus, als würden alle seine Wünsche in Erfüllung gehen denn die großen Studios rissen sich um das Ausnahmetalent, waren bereit hohe Gagen zu zahlen und versicherten künstlerische Freiheit. Doch wie so oft stellte sich diese Situation in der Realität als illusorisch heraus, Murnau „Sunrise“ und „City Girl“ blieben nicht ohne Eingriffe von Seiten des Studios um Produzentenlegende William Fox. Bitter enttäuscht von diesen Erfahrungen mit der verlogenen Traumfabrik Hollywood überdachte Murnau seine eigene Entwicklung und ging gemeinsam mit einem guten Bekannten und Freund, Robert J. Flaherty, ein großes finanzielles Wagnis ein. Obwohl der Tonfilm sich schon durchgesetzt hatte und die Stummfilmära vorbei war, inszenierte Murnau wieder ohne gesprochene Worte und setzt einen würdigen Schlusspunkt für sein Metier. Leider kam Murnau niemals zu einer Karriere im Tonfilm doch dazu später mehr. Robert J. Flaherty dagegen war ein renommierter Dokumentarfilmer, dessen naiv zivilisationskritische Werke als Archetyp des Genres angesehen werden können und noch heute durch ihre visuelle Brillanz zu begeistern wissen. Der naturbegeisterte Flaherty war der ideale Partner für das halbdokumentarische Projekt „Tabu“, wofür sich vor allem Murnau finanziell übernahm und verschulden musste.
Das Werk ist unterteilt in zwei signifikante Abschnitte. Der erste Abschnitt trägt den Titel „Paradise“ und zeigt den scheinbar idealisierten Mikrokosmos eines eingeborenen Stammes in der Nähe Bora Boras. Hier erinnert „Tabu“ noch stark an die verklärenden aber technisch brillanten Filme Flahertys, doch tragen schon viele Bildkompositionen die typische Symbolik eines typischen Murnau-Films. Auf Zwischentitel verzichtet man beinahe vollständig, sodass die alleine die ausdrucksstarken Bilder die Handlung tragen müssen. Mit leichter Hand führt der Film seine beiden Hauptcharaktere ein, den kräftigen Matahi und die unschuldige Reri, die vom Gesetz zum Tabu erklärt wird und von keinem Mann berührt werden darf. Die beiden geben ihren Gefühlen nach und ziehen damit anscheinend einen Götterfluch auf sich. Alle Rollen sind übrigens ethnisch korrekt mit Ureinwohnern besetzt und sämtliche Szenen wurden akribisch an wunderschönen Originalschauplätzen gefilmt. So entsteht ein authentisch naturalistischer Eindruck, der die einfache Sichtweise der bisherigen Filme Flahertys an Komplexität weit überragen sollte. Mit dem ungerechten Gesetz wird deutlich, dass Murnau und sein Ko-Regisseur sich nicht in Lobeshymnen auf den ach so guten Wilden ergehen wollen sondern ein vielschichtigeres Anliegen verfolgen. Murnau zeigt in seinem für ihn typischen Skeptizismus das Bild einer heuchlerischen Regierungsform, die nur nach außen hin frei und ungezwungen wirkt. Innerlich dagegen lauert der starre Druck uralter Traditionen, der für die Gefühle des Einzelnen nicht viel Platz einräumt. Elegische Tanzszenen werden in rhythmischen Schnitten festgehalten und auch in ruhigeren Szenen wirken die Bewegungsabläufe ungeheuer dynamisch. Auch wenn die Handlung sich sehr langsam entwickelt und es keine Dialoge gibt passiert immer etwas auf der Leinwand und an den wunderschön fotografierten Schauplätzen kann man sich kaum satt sehen.
Mit voran schreitender Laufzeit ändert sich die Stimmung schleichend, die anfangs heiteren Klänge werden zunehmend schwermütiger und dramatischer. Doch trotz aller Melodramatik und immer stärkerer Emotionalisierung bleibt der nüchterne, halbdokumentarische Anteil spürbar erhalten. Die natürlichen Darsteller, die nicht zu unangemessener Schauspielerei angewiesen wurden sondern unverkrampft natürlich auftreten, tragen entscheidenden Anteil an der Funktion des gewählten Stils. Der zweite Teil trägt den bezeichnenden Titel „Paradise Lost“. Doch nicht die bösen Weißen bringen den Ureinwohnern das Unglück, es entsteht von innen heraus und ist Teil jeder Art menschlicher Gesellschaftsbildung, sei sie noch so unangetastet von der zerstörerischen Zivilisation. Zwar werden Matahi und Reri in Versuchung geführt, den Apfel pflücken sie aber sichtbar selbst. In den Szenen wenn die beiden Wilden auf die zivilisierte Welt treffen und die unterschiedlichen Welten in der Sprache ihrer Musik charakterisiert werden, findet im Film ein dramaturgischer Umbruch statt. Alle Versuche der gesellschaftlichen Ächtung und dem damit verbundenen Fluch zu entkommen scheitern und dem Fluch wird Tribut gezollt. Die Beziehung zerbricht an dem Druck, dem Reri nicht gewachsen ist und dem Matahi sich nicht beugen will – obwohl die Liebesgeschichte tragisch endet bleibt die Schlusssequenz nicht ohne einen Hoffnungsschimmer. Das einstige Paradies ist zwar schon lange verloren, wenn es überhaupt jemals ein Paradies war. Wo der Mensch ist, da ist ein Gesetz. Und wo ein Gesetz ist, da geraten unweigerlich Menschen in die Willkür des Gesetzes oder deren Vollstrecker. Dem Individuum bleibt nur eines: Aufbegehren gegen daraus resultierende Lebensumstände.
Kurz nach der Fertigstellung des Films verstarb Murnau bei einem Verkehrsunfall. Diese tragische Tatsache bekommt einen makaberen Beigeschmack wenn man bedenkt wie offensichtlich die Parallelen zu seinem letzten Film sind. Das im Film thematisierte Tabu (u.a. gelten auch gewisse Orte als verbotene Zonen) ist unter den Einheimischen von Bora Bora kein Ammenmärchen und wurde nicht von Murnau hinzu erfunden. Für einige Dreharbeiten betrat das Team auf Murnaus Wunsch einige geweihte Orte und verstießen gegen die dortigen Glaubensvorgaben. Der Unfalltod Murnaus ist bis heute eines der dunkelsten Mysterien der Filmgeschichte. „Tabu“ ist sein filmisches Vermächtnis, eine nicht nur visuell beeindruckende Parabel mit universeller Gültigkeit. Wie ein Besessener war der große Regisseur in das Projekt vertieft und bestand auf äußerstem ästhetischen Perfektionismus, dem erst Orson Welles mit „Citizen Kane“ wieder entscheidende Aspekte hinzufügen konnte. Murnaus letzter Film ist reines Kino voller Emotion, höchst unterhaltsam und wirft einen verblüffend überzeugenden Blick auf eine andere Kultur. Dieser Versuch gelang der zwiespältigen Dokumentation „Africa Speaks“ (1930) und den meisten früheren Filmen von Flaherty nur bedingt.
Fazit: Wahrscheinlich der letzte wirklich große Film der ertragreichen Stummfilmära, für die Murnau einer der wichtigsten Regisseure überhaupt war. Der Erfolg wurde vom tragischen Tod des Filmemachers überschattet und noch heute wartet das bemerkenswerte Werk auf eine angemessene Wiederentdeckung, ganz besonders in Deutschland.
8,5 / 10