Mit „Gravity" gelang Starregisseur Alfonso Cuarón 2013 nicht nur ein visuell extrem beeindruckender Film, sondern auch der größte kommerzielle Erfolg eines so genannten „Origins" also eines Films, der zur Abwechslung mal nicht auf einer Vorlage basierte bzw. kein Remake, Pr-, Sequel oder Reboot ist. Vollkommen zu Recht, denn „Gravity" erinnert den Zuschauer daran, warum Filme auf die große Leinwand gehören - Er ist ein intelligenter, nervenzerrender und visuell überwältigender Genuss. Ein Film, in dem nicht viel gesprochen wird, der aber trotzdem viel zu sagen hat.
Während Reparaturarbeiten am Hubble-Weltraumteleskop geraten der Medizinerin Ryan Stone (Sandra Bullock) und der altgedienten Astronaut Matt Kowalski (George Clooney) in eine Katastrophe. Ein Trümmerfeld, das infolge einer Kettenreaktion ausgelöst durch einen russischen Satelliten um die Erde stürzt, zerstört das Teleskop und das angedockte Space Shuttle. Stone und Kowalski entkommen in letzter Sekunde und versuchen die Rettungskapseln der internationalen Raumstation ISS zu erreichen. Währenddessen schwinden ihre Sauerstoffvorräte und das stetig wachsende Trümmerfeld steuert erneut auf sie zu.
„Gravity" ist ein reinrassiger Survival-Thriller in einem Science-Fiction-Setting. Das abrupte Herausreißen aus vertrauten und sicher geglaubten Strukturen, der physische Überlebenskampf wahlweise gegen die Natur, oder menschliche Antagonisten, das isolierte Setting und die vergleichsweise kleine Gruppe an handelnden Personen - all diese Konventionen bedient Alfonso Cuarón und steht damit vollkommen in der Tradition des Genres. Während frühe Vertreter wie „Five Came Back" (1939) und Hitchcocks „Lifeboat" (1944) kammerspielartige, realistische Szenarien ersonnen, fassten spätere Klassiker wie „On the Beach" (1959), „Panic in Year Zero (1962), „Der Flug des Phönix" (1965), „The Naked Prey" (1966) „Planet oft the Apes" (1968) und „The Omega Man" (1971) das Szenario deutlich weitläufiger und meist fantastischer. John Bormans „Beim Sterben ist jeder der Erste" (1972) katapultierte den Realismus kompromisslos und schmerzhaft zurück ins Genre. Seitdem ist der Survival-Thriller eng mit realistischen („Überleben!", „Apollo 13") oder zumindest denkbaren Szenarien („Cast Away", „The Grey") verknüpft, nicht selten bedient er sich dabei wahren Begebenheiten. Durch eines dieser wahren, oder zumindest denkbaren Szenarien entdeckte Hollywood um Die Jahrtausenwende den Reiz an begrenzten Settings wieder: Die Indie-Produktion „Open Water" (2003) war nicht nur ein gigantischer Kassenerfolg, sondern wirkte auch stilbildend für viele folgende Survival-Thriller wie „Frozen" (2010), „127 Hours" (2010), „Life of Pie" (2012) und nicht zuletzt „Gravity" (2013).
In Punkto Minimalismus wird „Gravity" nur noch von genreverwandten Einpersonenstücken wie „Buried" (2009) oder jüngst J. C. Chandors „All is Lost" (2013) übertroffen. Neben der begrenzten Figurenanzahl teilt er mit ihnen die Ambition, ein möglichst glaubwürdiges Szenario zu entwerfen. Das scheint angesichts des Weltraums-Setting ambitioniert, gelingt aber, abgesehen von einigen dramaturgischen Abkürzungen weitgehend. „Gravity" bietet visuell deutlich spektakuläre Bilder, als es die Holzkiste aus „Buried", bzw. das offene Meer aus „All is Lost" jemals könnten. Und tatsächlich schöpft Cuarón das Weltraum-Setting komplett aus, indem er sowohl beindruckende Action-Setpieces kreiert, aber auch die Hilflosigkeit und Isolation im luftleeren Raum effektiv in Szene setzt. Seine Protagonisten strampeln, zappeln, beißen und kratzen förmlich um ihr Überleben und wirken damit vor allem zu Beginn des Films wie hilflose Schmetterlinge im Sturm einer willkürlichen Katastrophe. Der Titel „Gravity", also „Erdanziehungskraft", steht hier auch symbolisch für den unbedingten Überlebenswillen der Protagonisten, die nichts anderes wollen, als zurück zur Erde zu kommen.
Erstmals fügen sich auch Cuaróns ausgedehnte Plansequenzen vollkommen organisch in die Inszenierung, statt sie zu dominieren. Auch in „Children of Men" (2006) gerieten sie zwar visuell beeindruckend, aber seltsam selbstzweckhaft und rissen den Zuschauer vollkommen aus dem Film. Zudem blieb stets der schale Beigeschmack eines prätentiösen Versuchs, hier wolle ein Künstler dem Zuschauer in erster Linie seine eigene Genialität demonstrieren. Die frei schwebenden One-Shotsequenzen in „Gravity" ergeben dagegen durchaus Sinn, fügen sich nahtlos in den Film ein, vermitteln dem Zuschauer ein wunderbares Echtzeitgefühl und simulieren (vor allem in der 3D-Fassung) die Schwerelosigkeit, in der sich die Protagonisten befinden. Der Film bietet eine Reihe visuelle Augenöffner, die aber stets logisch mit der Handlung verknüpft werden und in ihrem Überwältigungsfaktor und Brillanz in einer Liga mit „Avatar" (2009) und „Jurassic Park" (1993) spielen.
Schauspielerisch glänzt vor allem Sandra Bullock, die als Hauptdarstellerin im Handlungsverlauf von der panischen Theoretikerin zur willensstarken Frau der Tat reifen muss. Diese Reise meistert sie mit Bravour, sowohl in den leisen, als auch in den lauten Phasen des Films. George Clooney hingegen gibt den routinierten Weltraumfahrer...nunja routiniert ohne dabei groß glänzen, oder sich entwickeln zu können. Er darf die wenigen humorvollen Momente beisteuern.
Auf der Metaebene platziert Alfonso Cuarón passend zur Heldengenese seiner Protagonistin zahlreiche Geburtsmetaphern. Wenn sich die Überlebenden am Ende nur mühsam aus dem (Ur-)schlamm erheben, um (nach der Zeit der Schwerelosigkeit) mühsam auf zwei Beinen zu stehen, dann ist das nur die letzte von zahlreichen zweideutigen Geburts- und Evolutionsanalogien. Bis dahin wird embryonengleich im Uteros der ISS geschwebt, sich nicht nur sinnbildlich abgenabelt, der Weltraumschrott unsere Helden periodisch und geburtswehengleich daran erinnern, dass es Zeit ist aufzubrechen und schließlich per Suyoz-Rettungskapsel-Rücksturz der Geburtsvorgang nachgestellt werden. Das alles geschieht dankbarerweise subtil genug, um nicht von der eigentlichen Story abzulenken, wer allerdings Befriedigung empfindet, solche Symboliken zu entdecken, dürfte an „Gravity" seine Freude haben.
„Gravity" gehört zu den absoluten Kinohighlights des Kinojahres 2013. Ein visueller Genuss, ein spannender Thriller mit tollen Schauspielleistungen und einer intelligent geschriebenen Geschichte. Absolute Empfehlung.
Daran werde ich mich erinnern: Die schwerelose Kamera.