Manchmal sind Filme ihrer Zeit weit voraus und erfahren ihre wohlverdiente Würdigung erst Jahrzehnte nach ihrer Uraufführung. Tod Brownings "Freaks" von 1932 ist ein solcher Film. Er verschafft uns einen Einblick in die Alltagswelt jener Menschen, die in den Kuriositätenkaninetten herumziehender Wanderzirkusse als üble Launen der Natur präsentiert wurden. Zur Entstehungszeit von "Freaks" war mit derartigen Shows noch richtig Kasse zu machen, und nun kommt ein Regisseur, der seine Vergangenheit in eben diesem Milieu verbracht hat, daher und zeigt einem breiten Publikum, wie erschreckend normal diese Menschen hinter ihrer zur Schau gestellten Fassade eigentlich sind. Die so genannten Freaks führen nämlich vor und nach den öffentlichen Zurschaustellungen ein - von den Einschränkungen durch ihre körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen mal abgesehen - ganz gewöhnliches Privatleben: Sie pflegen Freundschaften untereinander, verlieben sich und zeugen sogar Nachwuchs. Die Erkenntnis, dass die vermeintlich normalen Menschen die eigentlichen (sozialen) Krüppel sind, hat die Ablehnung des zeitgenössischen Publikum wohl noch zusätzlich verstärkt.
Die Folge: Dieses flammende Plädoyer für mehr Menschlichkeit wurde verstört zurückgewiesen und obendrein noch völlig missverstanden. Durch die beunruhigend-düstere Schlusssequenz, in der die "Freaks" grausame Rache für den Mordanschlag an einem Mitglied ihrer verschworenen Gemeinschaft üben, sahen sich wohl viele in ihrer Angst vor dem Fremden bestätigt. Der Film wurde in den USA und in Großbritannien beschlagnahmt und verboten, für Tod Browning, der ein Jahr zuvor seinen größten Erfolg mit der Leinwandadaption des Dracula-Broadwaystückes (mit Bela Lugosi in der Hauptrolle) feierte, bedeutete die Arbeit an diesem Film das Ende seiner Karriere. Erst Ende der Sechziger Jahre wurde das Material wieder ausgegraben; allerdings sind Aufnahmen in der Länge von fast einer halben Stunde unauffindbar geblieben.
Schade, denn wer weiß, welche beeindruckenden Momente uns so verwährt geblieben sind. Es bleibt zu hoffen, dass es sie nicht derart denkwürdig waren wie etwa die Szene, in der sich Prince Randian - im wahrem Leben als der "lebende Torso" oder die "menschliche Zigarre" bekannt - nur mit Hilfe seines Mundes eine selbstgedrehte Zigarette anzündet. Doch der Verdacht liegt nahe, dass die behinderterten Darsteller wohl doch um ihre Screen-Time beschnitten wurden - denn in den verbliebenen, 60- minütigen Fassung wird den "normalen" Protagonisten sehr viel Zeit eingeräumt. Viele Figuren wie das Vogelmädchen oder das menschliche Skelett wirken wie bloße Statisten; ein Eindruck, der sicherlich nicht in Tod Browning Sinne gewesen sein dürfte.
Auf das Verständnis des Filmes schlägt das Fehlen einiger Szenen nicht aus, wohl aber auf das Filvergnügen selbst, das durch das Wissen um ihr Verschwinden etwas getrübt wird. Was bleibt, ist eine liebevolle Milieustudie mit authentischen (Laien-)Darstellern, die allerdings aufgrund ihres seifenoperhaften Charakters stellenweise etwas oberflächlich erscheint. Und auch wenn die Regiearbeit bis zum surrealistisch anmutenden Finale bestenfalls als routiniert beschrieben werden kann: Die Botschaft ist unmissverständlich. Damals ein bahnbrechender Film, ist "Freaks" auch heute noch ein hochgradig aktueller Beitrag. Auch wenn in unseren Kreisen das Interesse an dubiosen "Freakshows" glücklicherweise erkaltet ist, so richtig enttabuisiert ist das Leben mit Behinderungen immer noch nicht. Dass "Freaks" weiterhin im Horror-Genre geführt wird, ist ein Beleg hierfür. (8/10)