Flaniert man die „National Mall" im Zentrum der US-amerikanischen Hauptstadt in westlicher Richtung entlang, so gelangt man vom überaus bekannten, strahlend weißen Kapitol nach etwa vier Kilometern und einem Marsch von etwa einer dreiviertel Stunde zum ägyptisch anmutenden Obelisken des „Washington Monument", eines Denkmals errichtet zu Ehren des ersten und heute noch beliebtesten Präsidenten der Vereinigten Staaten. Geht man in Verlängerung dieser Linie weiter entlang der von vielen, meist einheimischen Touristen frequentierten Spazier- und Joggingmeile, so passiert man nach einem weiteren knappen Kilometer eine großangelegte kreisförmige Anlage. Das „World War II Memorial" würdigt die im Pazifik und Europa gefallenen Söhne Amerikas auf eine, zumindest für einen Deutschen, überaus ausladende Weise. Doch nicht mehr lang und man findet sich, nach weiteren schlappen tausendfünfhundert Metern, schon am Ende der Promenade wieder. Bereits von weitem türmt sich hier ein großes, römisch anmutendes Gebäude auf, das in seinem Inneren eine Ruhmeshalle birgt, das „Lincoln Memorial". In ihr sitzt der zweitbeliebteste Präsident der Vereinigten Staaten blankgeputzt in gravitätischer Haltung auf einem Sessel und starrt überlebensgroß über die Köpfe der Besucher hinweg ins Leere. Oberhalb des gütig dreinschauenden Mannes befinden sich gut lesbar die in dekorativem Marmor verewigten Zeilen:
„In this temple, as in the hearts of the people for whom he saved the Union, the memory of Abraham Lincoln is enshrined forever."
Nicht ganz so steinern, aber doch auch nicht viel blumiger wird dem sechzehnten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika nun ein weiteres Denkmal gesetzt. Ein filmisches. Und der Mann auf dem Regiestuhl heißt Steven Spielberg.
Epik erwartet man da als kundiger Kinogänger. Pathetik und Tragik. Bekommt man auch. Aber nicht wie gewohnt und weniger als befürchtet. Eher gemächlich lässt es der wohl bekannteste Regisseur Amerikas diesmal angehen. Weder werden gemäldegleiche Schlachtenbilder eingefangen - obwohl sich der Bürgerkrieg wahrlich dazu anböte - noch die üblichen computeranimierten Kulissengebirge errichtet. Es bleibt ungewohnt schlicht im Hause Lincoln. Das ist Fluch und Segen des Films zugleich. Auf der Habenseite seines zumindest in den Staaten schwarze Zahlen schreibenden Kontos prangt die historisch triftige Sachlichkeit. Zwar wird Lincoln natürlich ein Thron aus Zelluloid errichtet, doch verliert sich Spielberg nicht, wie mancherorts behauptet, in einfallsloser Heldenverehrung oder gar vordergründiger Propaganda. Der große Nachteil des bewusst nicht überdimensioniert angelegten Historien-Opus liegt allerdings in seiner oft zähen Dialoglastigkeit, die vor allem dem hier kontextuell nicht weiter Bewanderten etwas aufstoßen könnte.
Zentrales Element und eigentliches Thema von Spielbergs ambitioniertem Film ist der im Januar 1865, wenige Monate vor Ende des Bürgerkriegs, heiß diskutierte „13. Zusatzartikel zur US-Verfassung" - der erste hinzuzufügende Baustein zum seit sechzig Jahren unveränderten Grundgesetz der ersten Demokratie der Neuzeit. Erstmals sollen per Legislative offiziell beschlossen alle Sklaven auf amerikanischem Boden unwiderruflich frei und keine Geknechteten mehr sein. Präsident Abraham Lincoln (Daniel Day-Lewis) arbeitet zwar bereits seit Jahren auf dieses Ziel hin, musste aber ob der realen Möglichkeiten bisher davon Abstand nehmen. Einzig die Sklaven auf dem Gebiet der abgefallenen gegnerischen Südstaaten sind - wenn auch selbstredend ohne unmittelbare Wirkung - seit zwei Jahren per Dekret vom Norden freigelassen. Nicht jedoch die Farbigen auf dem Gebiet der der Union treu gebliebenen Grenzstaaten! Und so inhaltlich übersichtlich das auch anmuten mag, hiermit hauptsächlich beschäftigt sich das bisweilen recht trockene, jedoch für den Interessierten recht aufschlussreiche filmische Porträt Spielbergs, bei dem unter anderem Tommy Lee Jones als radikaler Republikaner und Sklaverei-Hasser, Sally Field als ewig quengelnde Präsidentengattin sowie Shooting-Star Joseph Gordon-Levitt als Lincoln-Junior kräftig mitmischen. Wird es „Honest Abe" (ein an dieser Stelle interessanter Spitzname des Präsidenten), dem glühenden Verfechter eines ungeteilten Amerikas, der jedoch von Natur aus, wenn auch interessenspolitisch nachgestellt, zugleich ein Feind der Sklaverei ist, gelingen, das von ihm favorisierte neue Gesetz durch das von seinen politischen Gegnern dominierte Repräsentantenhaus des Kongresses zu bringen? Für die endgültige Beseitigung der ungerechten weißen Unterdrückung benötigt er eine Zweidrittelmehrheit. Doch die Zeit scheint noch nicht reif für die Gleichstellung der Schwarzen. Zu eisig ist der politische Gegenwind. Auch im eigenen Lager. Wie also vorgehen? Ehrenwert und spiegelfreundlich oder heiligt der (doch heilige) Zweck die Mittel? Soll sich der Präsident der Amerikaner dazu herablassen, Abgeordnete zu bestechen und zu manipulieren? Soll er gar den blutigen Krieg mit all seinem Grauen weiterführen, nur um eine für viele doch nur lästige Rasse zu befreien? Und das obwohl alle anderen Kriegsziele, wie etwa die Zementierung der Union, doch bereits in greifbare Nähe gerückt sind? Wer jetzt meint, der Zuschauer müsse wie so oft entscheiden, der irrt. Sowohl das Sujet selbst als auch die Inszenierung Spielbergs rechtfertigen Lincolns Handeln mit Nachdruck. Es wird nicht kritisch beäugt, sondern lediglich filmisch legitimiert.
Kritik der Kritik wegen sähe da lieber so mancher europäische Zeitungsleser. Spielberg hält sich zwar exakt genau an das, was man heute von Lincoln weiß, nicht mehr und nicht weniger, dennoch missfällt so manchem politisch Interessierten die allzu glatte Darstellung des Staatsoberhaupts. Die ist zwar eigentlich gar nicht so hochglanzpoliert wie das marmorne Pendant - auch Spielbergs Hauptfigur macht Fehler -, aber ein Gedenkstein für einen US-Präsidenten ist in der alten Welt eigentlich von vorneherein ein Stein des Anstoßes.
Aber warum eigentlich? Was ist an diesem Lincoln-Pseudo-Biopic zu obrigkeitstreu? Ist es, weil es dem Mann primär um die Erhaltung der Union ging? Weil sich Lincoln also nicht gleich zu Beginn des Krieges daran machte, die Sklaven zu befreien? Der ehemalige Neger-Sklave, spätere Abolitionist und Schriftsteller Frederick Douglass etikettierte den hoch gewachsenen, hageren Mann mit seinem ulkigen Zylinder später folgendermaßen: „Vom rein abolitionistischen Standpunkt aus betrachtet, war Mr. Lincoln träge, kalt schwerfällig und indifferent; aber gemessen an der Stimmung seines Landes, einer Stimmung, die er als Staatsmann zu berücksichtigen hatte, war er flink, feurig, radikal und entschlossen."
Lincoln war kein wirklichkeitsverlorener Träumer. Er war der Mann der genutzten Möglichkeiten. Der Mann der Stunde, zur rechten Zeit am rechten Ort. Und just so stellt ihn Spielberg dar. In die gleiche Kerbe schlägt die Inszenierung Thaddeus Stevens‘ (Tommy Lee Jones). Der lässt sich vom Präsidenten widerwillig dazu überreden, lieber auf die von ihm favorisierte, ohnehin in jenen Tagen nicht durchsetzbare Forderung nach endgültiger Gleichstellung der Schwarzen vor dem Kongress zu verzichten. Seine erzwungene Zurückhaltung jedoch bewerkstelligt letzten Endes, das nun in Sichtweite geratene Ziel, die landesweite Aufhebung der Sklaverei, zu erreichen.
Es ist nicht schlimm, Abraham Lincoln als das darzustellen, was er letztendlich war. Als einen Pragmatiker mit Idealen, die er aber stets auf ihre praktischen Umsetzungsmöglichkeiten hin abklopfte. Spielbergs Film zeichnet natürlich erwartungsgemäß das in Amerika gängige Bild von Lincoln in seinen dort üblichen Facetten nach und wird so seinen leicht offiziösen Duktus nie ganz los. Doch wer sich daran stört, der macht besser einen Bogen um dieses letztendlich dennoch ungekünstelte Stück authentischer amerikanischer Geschichte. Der ganz leichte Mief der Pathetik wird trotz der etwas schwer verdaulichen Inszenierung schnell vom frischen Wind der Liebe zum Detail und zur historischen Plausibilität aus dem Zimmer getragen. Allein den hier offensichtlichen Drang Spielbergs nach wahrheitsgetreuer Wiedergabe dürfen sich nicht nur andere Geschichte aufbereitende Produktionen ähnlicher Bauart gern zum Vorbild nehmen, sondern auch der Regisseur selbst. Denn bisher brach sich dieser Drang bei ihm nur sporadisch Bahn.