Review

Per Dampfwalze in die Magengrube.

Passiert selten, aber mir fehlen fast die Worte. IRREVERSIBLE ist ein Film, den man wahrscheinlich ein paar Wochen liegen lassen und/oder sich mehrmals ansehen muß, um eine angemessene Kritik zum Film zu verfassen. Nicht, daß man ihn sich wirklich noch mal ansehen MÖCHTE. Aber gleichzeitig hat man das Gefühl, daß man das machen MUSS. Zu krass und zu einzigartig ist er, als daß man ihn mal eben so abhandeln oder verdauen könnte.

Ja, genau wie MEMENTO läuft IRREVERSIBLE rückwärts, und genau wie in jenem Film geht es um eine Vergewaltigung und die Rache dafür. Doch im Gegensatz zu ersterem, der zwar ein toller, origineller und beeindruckender Film ist, aber eben ein reiner Film, ein auf Fiktion beruhendes Experiment in Sachen Erzähltechnik bleibt, berührt einen IRREVERSIBLE über seine Narration, über seinen Stil direkt und aufs tiefste - wie eine Dokumentation, die ein enger Freund über gemeinsame enge Freunde gedreht hat; mit Figuren und Situationen, die einem so nahe gehen, als handelte es sich um Geschehnisse aus dem realen Leben, vor deren Bedeutung man sich kaum verschließen kann.

IRREVERSIBLE hat eine unmittelbare Macht und Gewalt, die einen trifft und - wie schon mehrfach erwähnt - ohne weiteres dazu führen kann, daß es einem physisch schlecht geht. Egal, wie "abgebrüht" man ist. Denn das hier wirkt unglaublich real.

Der Film läuft KONSEQUENT rückwärts. Was heißt, daß er mit den Credits anfängt. Sehr schöne Idee :o) Darauf folgt eine Sequenz, in der sich zwei ältere, eher unangenehme Typen darüber unterhalten, welchen Einfluß die Vergangenheit auf das heutige Leben haben kann. Egal, wie sehr man etwas bereut, man kann es nicht mehr ungeschehen machen; und man muß mit den Konsequenzen leben. Im Nachhinein wünscht man sich, man hätte hier noch viel genauer zugehört, denn wahrscheinlich wird genau hier eine Meta-Ebene für den Film geschaffen (ähnlich des Prologs in Goethes "Faust"). Aber auch, wenn man das tut, bezweifle ich, daß man die Bedeutung ihres Dialoges voll erfassen kann, ohne den Rest des Films zu kennen. Am Ende ihrer Unterhaltung wundern sie sich über den Lärm, der von unten kommt, und wir fahren mit der Kamera zur Quelle desselben: zum Schwulen-Club "Rectum", wo gerade zwei Männer verhaftet werden. Und erleben (mehr als nur "sehen") im folgenden, was zu ihrer Verhaftung geführt hat, was überhaupt vorgefallen ist, WIE es vorgefallen ist, und - dem Hype entgegengesetzt - vor allem und ausführlich, was den Vorfällen vorausgegangen ist.

Enthalten sind die berüchtigten Mord- und Vergewaltigungsszenen. Die aber, abgesehen von ihrer brutalen, den Zuschauer fast danebenstehen-lassenden Inszenierung, gerade daduch so wirksam werden, daß sie im Verlauf des Films (und danach) noch viel mehr Grausamkeit entfalten als die, die wir unmittelbar erleben. Denn in den Taten sind so viele schlimme kleine Details enthalten (bzw. werden durch sie bewirkt), die wir gar nicht erahnen können, als wir sie erleben... und die erst dadurch bewußt werden, daß sie "vorher", im Film also später, in einem ganz anderen Zusammenhang eine Rolle spielen. In der ganzen ruhigen, harmonischen, scheinbar untrübbar schönen Vorgeschichte.

Das Thema des Films ist Zeit, und was sie zerstören kann. Das glaube ich zumindest JETZT. Der Film bietet aber auch eine Menge Hinweise, um ihn ganz anders zu deuten (Schlüsselwörter: Träume, Buch). Hört sich nach einer schlichten Moral an: was in einem Moment noch perfekt und wunderschön erscheint, kann im nächsten Moment, aufgrund dummer Zufälle, schon kaputt sein und nur noch Schmerzen bedeuten. Also: Make every Minute count... you will never be able to re-live it.

Aber ob nun hinter der Story mehr steckt oder nicht: IRREVERSIBLE ist einer der wenigen Filme, die tatsächlich vorrangig durch die Art ihrer Inszenierung leben und gelingen. Zum einen sind da die oben genannten Details, die die Brutalität des Geschehens unendlich erhöhen. Und die einem einfach nicht aufgefallen wären, wenn sich der Film einer konventionellen, chronologischen Erzählweise bedient hätte. Zum anderen ist da die unglaubliche Nähe der Narration zu ihren Figuren. Wir fahren in der U-Bahn mit, wir sind Gäste der Party, wir begleiten die Protagonisten in den Schwulen-Club. Und zum letzten ist da die Kamera-Arbeit. Zwar bin ich der Meinung, daß hier doch ein wenig zuviel des Guten getan wurde (und deshalb gibt es auch einen Punktabzug). Zwar ist das alles tatsächlich ungesehen, zwar zieht es einen wirklich in den Film rein, zwar hilft es, die Verwirrung der Charaktere nachzuvollziehen, wenn am Anfang des Films die Kamera wie eine besoffene Giraffe haltlos durch die Gegend torkelt und ungebremste Kreise zieht. Aber da sie das auch in Sequenzen tut, in denen es keinerlei story-technische Begründung dafür gibt (z.B. in der Eröffnungssequenz), wirkt es ab und zu eher show-off-mäßig. Gewollt "anders", anstrengend und künstlerisch.

Und, wie gesagt, über die Gesamtaussage muß ich wohl noch ein Weilchen nachdenken. Aber unabhängig davon ist IRREVERSIBLE wahrscheinlich der beeindruckendste Film dieses Jahres. Jeder, dem es auch und gerade darum geht, etwas neues und einzigartiges zu sehen, darf diesen Film nicht verpassen. Er sollte allerdings einen sehr starken Magen mitbringen. Und ausreichend Zeit zum Nachdenken.

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