Review

Als der Film beginnt, endet der Krieg. Während aus dem Lautsprecher die Nachricht von der Kapitulation Japans erklingt, feiern die Soldaten der US-Navy am Strand des Pazifiks, trinken Alkohol und modellieren eine übergroße nackte Frau in den Sand. Doch nur Freddie Quell (Joaquin Phoenix) "treibt" es mit ihr, bevor er später in ihren Armen einschläft.

Sex und Alkohol bleiben auch nach dem Krieg Freddies ständige Begleiter, denn der Veteran kommt im Zivilleben seiner Heimat nicht mehr zurecht. Seinen Job als Fotograf in einem mondänen Kaufhaus verliert er nach einer Auseinandersetzung mit einem Kunden, von dem er sich provoziert fühlt. So schnell wie Freddie überreagiert, so kreativ ist er darin, sich Alkohol aus den aberwitzigsten Zutaten zu mischen. Als er als Erntehelfer einem alten Mann von den Philippinen eine Kostprobe reicht, wonach dieser umkippt, kann er noch gerade vor dessen Landsleuten fliehen, die glauben, er wollte ihn vergiften. Zu diesem Zeitpunkt, fast fünf Jahre nach dem Ende des 2.Weltkriegs, ist sein Zustand der Verwahrlosung schon weit fortgeschritten.

In dieser Verfassung lernt er Lancaster Dodd (Philip Seymor Hoffman) kennen, als er sich auf ein Schiff schleicht, wo er feiernde Menschen auf dem Deck gesehen hatte. Als Freddie am nächsten Morgen in einer Koje aufwacht, weiß er nichts mehr vom Vorabend, aber der freundlich auf ihn zukommende Dodd erinnert ihn nicht nur an ihr gestriges Gespräch, sondern setzt sich zu ihm, um mit ihm gemeinsam ein Glas seines selbst gefertigten Alkohols zu trinken. Optisch ist Dodd, ein kräftiger untersetzter Mann, das Gegenteil von dem schmächtigen Freddie. Auch in seiner Außenwirkung, wenn er im tadellosen Anzug die Gesellschaft auf dem Schiff begrüßt, die die Vermählung seiner Tochter Elizabeth (Ambyr Childers) mit Clark (Rami Malek) feiert. Alles an Dodd ist souveräne, offene Gestik und eine klare Sprache, mit der er seine Überzeugungen vorträgt. Die Menschen auf dem Schiff nennen ihn nur "Den Meister", den sie für seine weltanschaulichen Theorien bewundern, die er in seinem Buch "Die Sache" festgehalten hat.

Dass Paul Thomas Anderson seinen Film nach dem Ende des zweiten Weltkriegs spielen lässt, begründet er damit, dass in dieser Phase des Umbruchs und des wirtschaftlichen Aufschwungs eine Vielzahl an Bewegungen entstanden, die den von den Erlebnissen im Krieg verstörten Soldaten einen neuen Sinn im Leben versprachen. Die zeitlichen Parallelen zur Entstehung von "Scientology" sind unverkennbar, wie auch weitere Parameter an den Gründer der Sekte, L. Ron Hubbard, erinnern - etwa dessen Vergangenheit bei der US-Navy, die Dodd mit Freddie gemeinsam hat, oder der Sohn und die Tochter aus der ersten Ehe, die bei Anderson schon etwas älter sind. Doch diese Anspielungen haben keine entscheidende Bedeutung für "The master", denn Andersons Ansatz versteht sich genereller und bis in die Gegenwart gültig.

Das Kernstück seines Films besteht aus dem Diskurs zwischen den beiden männlichen Protagonisten, deren Charaktere weit vielschichtiger sind, als der erste Eindruck vermittelt. Besonders Joaquin Phoenix gelingt es, hinter der labilen, aufbrausenden, manchmal etwas tumben Fassade, eine Stärke und innere Unabhängigkeit durchschimmern zu lassen, die trotz seines wenig repräsentativen, manchmal unsympathischen Auftretens Attraktivität vermittelt. Sein Erfolg beim weiblichen Geschlecht - selbst Dodds Tochter macht sich an ihn heran - ist glaubwürdig, ebenso wie Dodds ernsthaftes Interesse an ihm. Auch Phillip Seymor Hoffman verfällt nicht in typische Klischees charismatischer, arroganter Führer, sondern wirkt dagegen sympathisch, mit seiner offenen Körpersprache ehrlich an seinen Mitmenschen interessiert und von seinen philosophischen Gedanken ernsthaft überzeugt.

Das Verhältnis zwischen den beiden Männern entwickelt sich zu einer Art Vater-Sohn-Beziehung und damit zu einer Liebe, die letztlich nicht befriedigt werden kann. Freddie liebt Dodd wegen dessen echter Anteilnahme und Freundschaft, wird zu seinem größten Bewunderer und radikalem Verteidiger gegen jede Art von Kritik, obwohl er ihn nicht versteht. In einer Szene, in der die "Gemeinde" zusammen gekommen ist, um mit dem "Meister" zu singen und zu feiern, sieht Freddie alle Frauen nackt. Im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern der "Sache" gelingt es ihm nicht, sich darauf einzulassen. Als Dodd von seiner Ehefrau Peggy (Amy Adams), die treibende Kraft hinter dem Unternehmen, seiner Tochter - deren Behauptung, Freddie wäre scharf auf sie, eine Umkehrung der Tatsachen ist - und seinem Schwiegersohn, der diesen zu Unrecht des versuchten Diebstahls bezichtigt, dazu aufgefordert wird, den unbequemen, nicht kontrollierbaren Mann fallen zu lassen, weigert er sich. Er sieht es als seine Aufgabe an, ihn von seinen animalischen Trieben zu befreien und ihn zu einem funktionierenden Mitglied der Gesellschaft werden zu lassen - aus Liebe zu ihm. Seine Äußerung, sie hätten versagt, gelänge es ihm nicht, meint er ehrlich.

Weder mit der Charakterisierung des Sektenführers, noch mit der des Verführten verharmlost Anderson die Thematik, sondern er verweigert sich einfachen Antworten. Freddie durchschaut den „Meister“ und seine Methoden nicht. Er will sich auf ihn einlassen, kommt aber gegen seine persönlichen Empfindungen nicht an. Wenn am Ende ihre Beziehung scheitert, dann wirkt Dodd wie der Gewinner, der inzwischen in einer prächtigen Villa residiert, während Freddie sein haltloses Leben weiter führt. Äußerlich mag das stimmen, so wie Dodds Frau die Fähigkeiten ihres Mannes zielgerichtet für den geschäftlichen Erfolg vorantreibt, aber innerhalb der Vater-Sohn-Beziehung ist Dodd gescheitert, denn im Gegensatz zu Freddie ist er nicht in der Lage, sein Gegenüber in seiner Individualität anzunehmen. Sein ernsthaftes Interesse an Freddie, seine Anteilnahme und seine innere Überzeugung, mit seiner Philosophie die Menschen retten zu können, entpuppt sich als Selbstbetrug – und damit als unmenschliche, diktatorische Gleichmacherei.

Paul Thomas Anderson kehrt die Geschichte nicht um, denn an dem Erfolg von Sekten wie „Scientology“ gibt es keinen Zweifel, so wie auch sein Film von genügend kritiklosen Anhängern bevölkert wird. Er entlarvt die Mechanismen, ohne bekannte Vorwürfe und Argumente aufzugreifen, sondern am Beispiel eines Menschen, der Sympathie ausstrahlt und über Charisma verfügt, dem aber über die eigene Philosophie die Empfindungen für seine Mitmenschen abhanden gekommen sind. Sein Versuch, diesen einen Sinn, eine Ordnung zu geben, beschränkt sich letztlich nur auf die bedingungslose Anerkennung seiner selbst aufgestellten Regeln. Erst die Figur des Freddie, die die Liebe Dodds braucht und erwidert, lässt deutlich werden, dass diese Regeln keine Rettung bedeuten.

Andersons Film ist kein Opus der einschneidenden Ereignisse, keine Story von Aufstieg und Niedergang - an äußerlichen Vorkommnissen geschieht nicht viel in "The master". Die Spannung ergibt sich aus den genau beobachteten, intensiven Gesprächen, den inneren Regeln der Dialoge und Vorträge, der Gestik und Mimik, mit denen versucht wird, die Psyche des Gegenübers zu beeinflussen. Wenn Anderson am Ende noch einmal das Bild von Freddie in den Armen der Sandfrau liegend zeigt, dann zeigt sich darin das traurige Abbild eines nicht veränderten Zustands, aber auch der tröstende Anblick menschlicher Individualität (9/10).

Details
Ähnliche Filme