„Temporal Recall"
Sind Sie Jahrgang 1974 oder älter? Haben Sie noch die totale Erinnerung an die gute alte Jugendzeit? Dann dürfte Ihnen der Grundplot von Len Wisemans neuem Science-Fiction-Kracher recht bekannt vorkommen. Ja, wo Total Recall draufsteht, ist auch Total-Recall drin. Wieder geht es um den Unterschied zwischen Traum bzw. Erinnerung und Realität oder zwischen zwei Parallelrealitäten, je nach eigenem Interpretationsgusto, denn auch diesmal gibt es, zumindest lange Zeit, keine eindeutige Lesart. Wieder wird der Held wider Willen in ein Action-Chaos katapultiert, in dem die Grenzen zwischen Freund und Feind ständig verschwimmen und die Frage nach der eigenen Identität zur zentralen Antriebsfeder mutiert. Also alles wie gehabt? Nicht ganz.
Auch wer das seinerzeit vom holländischen Regie-Provokateur Paul Verhoeven inszenierte Krawall-Spektakel zu seinen persönlichen Favoriten zählt - und das sind nicht wenige, u.a. auch Remake-Regisseur Len Wiseman selbst -, sollte ruhig mal einen Blick auf die Neuauflage riskieren. Zumindest die Ausgangslage bietet interessante Vergleichsmöglichkeiten.
Denn so sehr damals das bereits Jahrzehnte durch Hollywood geisternde Projekt auf den Hauptdarsteller Arnold Schwarzenegger zugeschnitten und damit sowohl inszenatorisch (Schwarzenegger wollte Verhoeven), erzählerisch (Verhoeven bestand auf einer kompletten Neubearbeitung des finalen Akts) wie auch darstellerisch (der übrige Cast musste zu dem Actionstar passen) angepasst wurde (1), so wenig war dies mit seinem Nachfolger Colin Farrell nötig, der keine Genreikone ist und damit auch flexibler einsetzbar.
Die spannende Frage lautet also: wie viel der früheren Drehbuchentwürfe steckt in aktuellen Version und wie sehr orientiert sich Wiseman an dem von ihm verehrten Original?
Zunächst einmal ist auch Wisemans Version eher lose an Philip K. Dicks literarischer Vorlage angelehnt. Noch stärker wie Verhoeven setzt er auf pausenlose Action und hetzt seinen Helden durch eine regelrechte Lawine aus Verfolgungsjagden (u.a per pedes, Aufzug und rasenden Schwebe-Autos), Faustkämpfen und diversen Schussgefechten. Das ist einerseits enorm unterhaltsam, da auch dem Zuschauer kaum Zeit zum Luftholen oder gar Nachdenken bleibt, andererseits aber auch etwas enttäuschend, da Colin Farrell durchaus zu einer intellektuelleren Herangehensweise an den Stoff getaugt hätte.
So entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet der oft wegen seiner vermeintlich vordergründigen Faszination für Sex und Gewalt gescholtene Verhoeven letztlich den intelligenteren und trotz seiner typischen Haudrauf-Inszenierung auch den subtileren Ansatz bietet. Die unterschiedlichen Bedeutungsebenen und Deutungsmöglichkeiten die das zentrale Thema des Realität vs. Traum-Dilemmas anbietet sind in der 1990er Version deutlich schärfer akzentuiert und führen den Zuschauer immer wieder clever aufs Glatteis. Trotz Schwarzeneggers eingeschränkter mimischer Fähigkeiten ist die psychische Spaltung und die emotionale Verwirrtheit Douglas Quaids im Originalfilm ungleich glaubwürdiger und überzeugender gestaltet. Zweifellos ein Verdienst Verhoevens, dessen Total Recall nicht nur als brutales Action-Feuerwerk, sondern auch als satirisch-kritische Utopie bestens funktioniert.
Wiseman dagegen ist Verhoevens galliger Humor ebenso fremd wie dessen Anliegen auch im Testosteron-geschwängerten Blockbusterkino an den Verstand des Publikums zu appellieren. Er ist zweifellos ein fähiger Regie-Handwerker, der es vor allem versteht Schauwerte, Action und Tempo zu einem stimmigen audiovisuellen Kraftpaket zu schnüren. Ein Künstler mit Visionen, oder ein gesellschaftskritischer Provokateur ist er sicher nicht. Auch mit Verhoevens drastischer Darstellung von Gewalt kann/will er nicht aufwarten, was nicht nur auf Studiopolitik geschoben werden sollte. So gesehen steht Total Recall 2012 weit mehr in der Tradition von Wisemans seelenlosen Underworld-Spektakeln als in der des Originalfilms oder der Philip K. Dick-Vorlage. Rasant, spektakulär, spannend, aber auch ohne Esprit, Charme und inhaltliche Komplexität.
Auch wen die zentralen Plotpoints gleich geblieben sind - der einfache Arbeiter Douglas Quaid (Colin Farrell) ist mit seinem Leben unzufrieden und geht zur Firma Recall inc., um sich aufregende Erinnerungen implantieren zu lassen; dabei wird eine tatsächliche Erinnerung freigesetzt, die Quaid suggeriert ein weltweit gesuchter Geheimagent zu sein; auf seiner Flucht versucht Quaid schließlich das Puzzle seiner wahren Identität zusammen zu setzen -, so gibt es doch einen zentralen Unterschied: Quaid reist nicht auf den Mars. Der Film spielt auf der nach einem C-Waffenkrieg größtenteils verseuchten Erde und ist damit auch nicht näher an den älteren Drehbuchfassungen oder Dicks Kurzgeschichte wie die Verhoeven-Fassung .
Im Gegenteil, das große Vorbild scheint der Schwarzenegger-Film zu sein, was sich nicht nur in zahlreichen - für Kenner des Originals durchaus gelungenen, weil liebevoll variierten - Anspielungen (die Frau mit den drei Brüsten taucht ebenso wieder auf wie Quaids „Telefonjoker"-Fluchthelfer oder seine weibliche Tarnidentität am Einreiseterminal) und teilweise wörtlichen Dialogzitaten, sondern auch im Konflikt zwischen einem totalitären Regime und einer Rebellentruppe zeigt. Wieder gibt es eine Kolonie der Unterpriveligierten - diesmal nicht auf dem Mars, sondern auf der anderen Seite der Erde - , die von den Machthabern gnadenlos ausgebeutet und letztlich auch zum Abschuss freigegeben wird. Auch wenn Fans des Originals durch die Kenntnis der verwickelten Geschichte kaum A-ha-Erlebnisse haben dürften, so machen zumindest die Reminiszenzen an den Verhoeven-Film durchgängig Spaß.
Das größte Plus der Neuauflage ist aber sicherlich das überbordende Set-Design. Über 20 Jahre tricktechnischer Weiterentwicklung sind deutlich sichtbar und machen Total Recall anno 2012 vor allem zu einem visuellen Genuss. So gibt es nicht nur eine Reihe clever erdachter Alltags-Gimmicks zu bestaunen, wobei ja auch schon der Verhoeven Film punkten konnte. Beeindruckend ist vor allem das Design der futuristischen Umgebungswelt(en).
Optisches Herzstück und Glanzstück ist dann auch die Ausgestaltung der beiden verbliebenen menschlichen Siedlungsgebiete („The United Federations of Britain", der frühere Großraum London, und „The Colony", das frühere Sidney), die aus mehreren übereinander gelagerten Ebenen und Plattformen bestehen und ungemein detailreich gezeichnet sind. Auch „The Fall", eine Art Schwerkraft-Lift, der durch den Erdkern rast und die beiden Gebiete miteinander verbindet, ist einer der Schauwert-Höhepunkte. Das alles mag sich in Ansätzen mehr oder weniger deutlich an Blade Runner und auch I, Robot orientieren, funktioniert aber dennoch als eigenständiges visuelles Konzept, das maßgeblich für den hohen Unterhaltungswert verantwortlich ist.
Damit konnte allerdings auch Paul Verhoevens Version dienen. Wer also noch über die totale Erinnerung an den Schwarzenegger-Hit verfügt, braucht das Remake nicht zwingend. Zumal Len Wiseman kaum etwas an der Grundgeschichte geändert hat und sich auffällig weniger für die Doppelbödigkeit des Traum-Realität-Dilemmas seiner Hauptfigur interessiert. Sein "Total Recall-Reloaded" bestätigt letztlich die These, dass es im aktuellen Remake-Karusell Hollywoods nicht etwa darum geht in Vergessenheit geratene Filmjuwelen wieder ins Bewusstsein zu rufen, vielmehr wird versucht aus dem Wiedererkennungeffekt Kapital zu schlagen. Wiseman dürfte hier also nicht - wie behauptet - als Triebfeder der Neuauflage fungiert haben, sondern lediglich als Instrument rein monetär motivierter Produzententräume. (2)
Für alle mit dem Stoff Unvertraute bietet aber auch die inhaltlich plattere Variante Wisemans noch genug erzählerisches Potential für einen vergnüglichen Kinobesuch, zumal dank eines phantastischen Setdesigns und nahezu pausenloser (allerdings weitgehend jugendfreier) Action jeglicher potentielle Anflug von Langeweile beherzt weggeblasen wird. Natürlich wird hier in erster Linie das Kurzzeitgedächtnis angesprochen, denn erinnerungswürdig - und das noch dazu total - ist das Gebotene sicher nicht. Aber schließlich verfügen wir ja alle ebenso über ein Langzeitgedächtnis. Und für dieses sollten auch 22 Jahre noch zu meistern sein.
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(1) Vgl. Douglas Keesay/ Paul Duncan (Hg.), Paul Verhoeven, Köln 2005, S. 110 f. sowie Peter Osteried, Arnold Schwarzenegger und seine Filme, Hille 2011, S. 209 ff.
(2) Vgl. Gerhard Midding, Der Film und sein Double, in: epd Film 08.2012, S. 24-29.