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„Der größte Film aller Zeiten“?

Der größte Hype aller Zeiten! – So empfand ich damals den Rummel um „Titanic“, die x-te Verfilmung des Untergangs des Prestige-Schiffs RMS Titanic auf dessen Jungfernfahrt im Jahre 1912, die der Kanadier James Cameron („Titanic“) einmal mehr in Personalunion als Drehbuchautor und Regisseur ab Mitte der 1990er bis zur Veröffentlichung im Jahre 1997 nachvollzog. Und wieder einmal brach Cameron den Rekord für das höchste Budget, Titanic wurde mit satten 285 Millionen Dollar Produktionskosten der bis dato teuerste Film überhaupt – aber auch der erfolgreichste mit den höchsten Einspielergebnissen: er brach als erster die Milliarden-Marke. Nominiert wurde er für 14 Oscars und gewann derer 11 – kein Film wurde öfter nominiert, keiner gewann mehr. Und was für einen Aufwand Cameron für seine Mixtur aus Historien-Epos, Katastrophenfilm und Liebes-Melodram betrieb! Bereits 1995 tauchte er mit speziellen U-Booten, die vier Kilometer in die Tiefe gehen konnten, zum Wrack herunter und entsandte ein eigens für den Film entwickeltes (!), ferngesteuertes Mini-U-Boot mit Spezialkameras in die Innenräume des gesunkenen Schiffs, um exklusive Aufnahmen, Eindrücke, die zuvor nie niemand gesehen hatte, filmisch festzuhalten. Cameron erhielt Zugang zu Blaupausen der Titanic, die als vermisst galten. Möglichst originalgetreu wurde die Titanic in Form verschiedener Modelle rekonstruiert und mit weitestgehend authentischer Ausstattung bestückt. Ein 160.000 m² großes Gelände an der mexikanischen Pazifikküste wurde gekauft, um dort ein Filmstudio in den Ausmaßen einer Kleinstadt zu erreichten. Mit Sprengungen wurde der Untergrund präpariert. Und, und, und…

„Das ist ja ekelerregend!“

Die Hysterie um den Film hatte kolossal genervt und stieß auf mein Desinteresse sowie meine Ablehnung. „Titanic“ präsentierte mit dem zuvor bereits für „Gilbert Grape“ mit einem Oscar nominiert gewesenen männlichen Hauptdarsteller Leonardo DiCaprio ein blondes Milchgesicht mit Popper-Frisur, der schlagartig zum Mädchenschwarm dank der um die historischen Ereignisse geflochtenen Romanze avancierte. Das verursachte bei einem rebellischen Halbstarken wie ich es war keine sonderliche Lust, in den Film zu gehen, sondern erschien im Gegenteil wie der ultimative, zu drei Stunden ausgewalzte Überkitsch, der Brechreiz verursacht und zum Hollywood-Phobiker macht. Während seiner Free-TV-Premiere wenige Jahre später saß ich irgendwie dabei, während mehrere Menschen aus dem Familien- und Bekanntenkreis ihn sich ansahen und verfolgte ihn so nebenher. Er wirkte in der Tat überaus schwülstig, überraschte mich aber mit einem durchaus beeindruckenden Finale. Nun, 17 Jahre nach seiner Premiere, ist der Hype soweit abgeklungen, dass ich mich an eine weitestgehend unvoreingenommene, erstmals konzentrierte Sichtung wagte.

„Ups, da hat einer das Wasser laufen lassen!“

Seit „The Beach“ weiß ich natürlich um die schauspielerischen Qualitäten DiCaprios, „Gilbert Grape“ und manch weiterer empfehlenswerte Film, an dem er beteiligt war, wurde zwischenzeitlich längst angesehen und für gut befunden. Mit ihm hatte ich längst meinen Frieden gemacht, doch wie steht es nun um seinen kommerziellen Durchbruch mit „Titanic“? Dieser beginnt zunächst einmal mit sepiagetränkten Aufnahmen winkender Menschen beim Auslaufen der Titanic, gefolgt von der Titeleinblendung und der Gegenwart des Jahres 1997, als Schatzsucher Lovett (Bill Paxton, „Aliens – Die Rückkehr“) und sein Team das Wrack erkunden und Camerons eingangs erwähnte Originalbilder zum Einsatz kommen. Diese von Zerstörung, Leid und Tod kündenden Unterwasseraufnahmen sind von morbider Faszination. Ein Schatz wird geborgen, der zwar nicht das erwartete Diamant-Collier „Herz des Ozeans“, dafür eine Aktzeichnung enthält, woraufhin sich die rüstige, 101-jährige Dame Rose Calvert (Gloria Stuart, „Der Unsichtbare“) telefonisch meldet, die in einer Nachrichtensendung vom Fund erfuhr. Diese war in den 1920ern als „Rose Dawson“ als Schauspielerin tätig, zudem soll Rose DeWitt Bukater, die Mrs. Calvert gewesen sein will, beim Untergang gestorben sein. Dennoch lässt man sie und Enkelin Lizzy (Suzy Amis, „Nadja“) einfliegen. Die Zweifel an ihrer Identität kann sie nach und nach ausräumen. Lovett lädt sie zu einer virtuellen Titanic-Reise ein und der unsensible, zottelige Assistent konfrontiert sie mit einer wissenschaftlichen Analyse des Untergangs Daraufhin, nach mittlerweile ca. 20 Minuten Laufzeit, beginnt ihre Erzählung aus ihrer Erinnerung heraus und damit die ausgedehnte Rückblende, die den eigentlichen Film ausmacht. Zugeben, das ist ein gut gewählter Aufhänger und obwohl sich Cameron bereits jetzt alle Zeit der Welt nimmt, erscheint dieser Quasi-Prolog, diese Rahmenhandlung, weder aufgesetzt noch überflüssig, sondern präsentiert beinahe „im Vorübergehen“ spektakuläre Originalaufnahmen und thematisiert in leicht kritischer Weise den kommerziellen Antrieb menschlichen Handels in Form der Schatzsucher um Brock Lovett. Zudem stellt er einen Bezugspunkt zur Gegenwart her, statt sich ausschließlich auf die Vergangenheit zu konzentrieren, so dass aus „Titanic“ zunächst eine gemütliche Erzählung wird, deren Einstieg für den Zuschauer hierdurch erleichtert wird.

Nun heißt es also wirklich „Leinen los“ für Camerons aufwändiges Historienkino mit seinen imposanten Bildern, die es bereits vor Einsetzen der Katastrophe zu sehen gibt – so ein als unsinkbar geltender Luxusdampfer, seinerzeit das größte Passagierschiff der Welt und Ausdruck von Technologie, Fortschritt und Wohlstand, macht natürlich optisch eine Menge her. Es stellt sich trotzdem die Frage, weshalb man sich einen dreistündigen Spielfilm mit bekanntem Ausgang anschauen sollte: Die Titanic rammt einen Eisberg, erweist sich als alles andere als unsinkbar und fordert 1.500 Tote, da sich aufgrund zu weniger Rettungsboote lediglich 200 Menschen retten konnten. Ich bleibe skeptisch und beobachte, wie Cameron die mehr oder wenige bekannte Handlung einer zunächst mäßig interessanten Romeo-und-Julia-Schmonzette zwischen dem bettelarmen und nur durch Spielerglück zu seiner Fahrkarte gekommenen irischen Abenteurer Jack Dawson (Leonardo DiCaprio) und der kurz vor ihrer Heirat stehenden, aus vermögendem Hause stammenden Rose DeWitt Bukater (Kate Winslet, „Sinn und Sinnlichkeit“) unterordnet. Diese lernen sich kennen und verlieben sich ineinander, obwohl Rose bereits dem reichen Schnösel Cal (Billy Zane, „Critters – Sie sind da“) versprochen wurde, der sich mit an Bord befindet. Um dies nachvollziehbar und nicht völlig weit hergeholt zu gestalten, benötigt „Titanic“ natürlich Zeit – viel Zeit, die er sich nimmt. Zusätzliche Brisanz entwickelt die Handlung, als sich nach einiger Zeit herausstellt, dass Rose' mitgereiste Familie eigentlich gar kein Geld mehr und deshalb ein verstärktes Interesse daran hat, Rose reich zu verheiraten. Doch der dem innewohnende Klassenkampf weicht immer wieder dem romantischen Kitsch, denke ich so bei mir, und nach 80 Minuten wird die Rückblende, von der man schon kurz davor war, zu vergessen, dass es eine ist, erstmals kurz unterbrochen.

Zurück in der Vergangenheit zieht Rose blank und der Zuschauer wird Zeuge der Entstehung der Aktmalerei, die zu Beginn des Films geborgen wurde. Jack entpuppt sich nämlich als talentierter Zeichner, dem sich Rose mehr und mehr öffnet, und die anfänglich zarte Romanze blüht weiter auf, ich entwickle stärkere Empathie mit dem verhinderten Paar, mit seiner Aufrichtigkeit allen Widrigkeiten zum Trotz, mit der Sehnsucht und dem Freiheitsdrang, die sich Bahn brechen. Atmosphärisch bin ich mittlerweile angekommen auf der Titanic, geholfen dabei hat die musikalische Untermalung, die immer dann besondere Wirkung entfacht, wenn die im Abspann von Celine Dion gesungene Titelmelodie in Form irisch-folkloristisch anmutender Flötentöne angespielt wird und sich in instrumental in verschiedenen Instrumentierungen durch den ganzen Film zieht, jedoch bei Weitem nicht das einzige Stück bleibt. Wieder wird die Rückblende kurz unterbrochen, doch nach rund 95 Minuten ist es soweit: Der berüchtigte Eisberg taucht auf und „Titanic“ wird zum Katastrophenfilm.

„Noch so ein Genre, das bei mir nicht sonderlich viele Steine im Brett hat“, denke ich mir, nachdem ich schon Historien-Epos und Liebesdrama akzeptiert habe. Doch anstatt sich ausschließlich auf unser Liebespaar zu konzentrieren und die vielen Menschen um sie herum zu Statisten zu degradieren, gelingt es „Titanic“, viele Nebenrollen und ihr Verhalten angesichts der sich abzeichnenden Extremsituation interessant zu gestalten und zu charakterisieren sowie einen interessanten Einblick in das große Ganze mit all seinen kleinen Rädchen zu gestatten, vom verschiedensten Bord-Personal über die Familien Rose' und Cals bis hin zu ausgewählten, von ihnen unabhängigen Passagieren. Nicht nur dadurch schafft es der Film tatsächlich, eine gewisse Spannung zu entwickeln, denn parallel zur allgemeinen Situation auf dem Schiff eskaliert der Konflikt zwischen Jack und Cal. Der Klassenkampf wird nun sehr viel stärker betont, die Feindseligkeiten Jack gegenüber treten jetzt offen zutage und damit einhergehend durchlebt Rose ihre Emanzipation, die einer zweiten Pubertät gleicht und starke feministische Züge trägt, zu einer starken Frauenrolle vom suizidgefährteten, in die Defensive gedrängten, im goldenen Käfig sitzenden Opfer der Umstände avanciert. Rose sprengt ihre Ketten und wird zu einer selbstbewussten Kämpferin, zu einer erwachsenen Frau, die ihre eigenen Entscheidungen trifft und verantwortet, der verlogenen Dekadenz der fragilen Fassade ihrer Familie eine direkte Absage erteilt und ihr Leben riskiert, um Jack aus einer sicheren Todesfalle zu befreien – all das vor dem Hintergrund des sinkenden Schiffs und einer sich immer auswegloser darstellenden Situation. Keine Frage – das ist aufregend. Die dritte Klasse wird eingesperrt, muss sich gewaltsam befreien, Panik und Chaos breiten sich aus und der Verteilungskampf um die zu wenigen Rettungsboote wird mit offenem Visier ausgetragen. Cal ist sich selbst der Nächste, trachtet Jack offen nach dem Leben und agiert immer schmieriger. In diesen Szenen entlarvt Cameron ohne jeden Anflug konservativer verklärender Romantik Standesdünkel und Aggressionen der höheren Schichten der damaligen Klassengesellschaft und bezieht Stellung zugunsten der Unterschicht. Der Off-Kommentar ist schon lange verstummt, nichts weist mehr auf eine Rückblende hin, der Zuschauer ist mittendrin im Geschehen und bangt an der Seite der verzweifelt und bedingungslos Liebenden, ohne das Schicksal der vielen unschuldigen Todgeweihten aus den Augen zu verlieren. Als das Unausweichliche geschieht und die Titanic schließlich auseinanderbricht und versinkt, kleiden Cameron & Co. die Katastrophe in derart hochkarätige, beeindruckende, berührende Bilder, dass ihr ganzes Ausmaß begreifbar, fast fühlbar wird und niemanden kalt lassen dürfte. Wie hier mit computergenerierten Animationen, Illusionen und Spezialeffekten in Kombination mit Modellbauten und Mechanik gearbeitet wurde, war wieder einmal wegweisend und hat nicht das Geringste mit dem Computerspiel-Look vieler heutiger Produktionen zu tun, die nichts Plastisches mehr im Pixelbrei aufweisen.

Ein todtrauriges Ende beschwört den Fatalismus einer chancenlosen Liebe, die einfach nicht sein darf und doch existiert, die geprägt ist von Edelmut und Selbstaufgabe, die sich an die letzten Hoffnungsschimmer klammert und bis zur allerletzten Sekunde feindlicher Umwelt und erdrückender Realität trotzt, die ihrer Ohnmacht mit Mut, Ungehorsam und Trotz gegenübertritt und damit zur puren Essenz der Romantik wird, zu einem aussichtslosen Kampf, den zu kämpfen sich dennoch lohnt, weil alles andere schlicht noch weniger Sinn ergäbe. Da braucht man sich auch nicht zu schämen, wenn man ein kleines Tränchen durchs Knopfloch drückt. Ein meines Erachtens grandioser Epilog in der Gegenwart knüpft genau dort an und nimmt die Angst vor dem Tod – denn der ist weniger schlimm als ein verschwendetes Leben ohne Kampf, Abenteuer und aufrichtige Gefühle, ganz gleich, ob diese mit Anerkennung oder Ablehnung, mit Erfüllung oder Leid einhergehen. Welch wunderbar emanzipatorisch-humanistische Aussage einer wundervoll altmodischen Tragödie, eingebettet in einen technologisch hochmodernen Film, der trotz exorbitanten Budgets und zweifelsohne aller manipulativer Konstruktion über ganz viel Herz verfügt. Nicht unter den Tisch kehren möchte ich Camerons Geschick, die Vergangenheit lebendig erscheinen zu lassen, sie einladend auszuleuchten, mit vielen unterhaltsamen Nebenschauplätzen zu versehen, stimmungsvoll mit Rot- und Blautönen zu arbeiten und seine Schauspieler in Szene zu setzen, die ohne Chargieren und fragwürdigen Humor auskommen und nie den Eindruck vermitteln, hinter dem Technik-Bombast die zweite Geige zu spielen. Zu den bereits erwähnten herausragenden Soundtrack-Elementen gesellen sich überraschend gut funktionierende Synthesizer- und Orchesterklänge sowie Chöre, die miteinander Hand in Hand gehen und ganz wie der Film Klassik mit Moderne verbinden. Welch große Rolle die Musik bisweilen spielt, ist unterbewusst stets wahrnehmbar, aber subtil genug, um nicht dominant alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Trotz einiger anachronistischer Details, die anscheinend durch sämtliche Kontrollen gerutscht sind, trotz der sich mir noch immer stellenden Frage, ob DiCaprios Erscheinungsbild seiner Rolle angemessen ist, trotz manch Klischees und eindimensionaler Dialoge, trotz oder gerade wegen seiner jeglicher Rationalität entrückten, kaum in die Realität passenden Ideale: Ja, „Titanic“ hat auch mich gepackt, nach anfänglichen Hürden beständig langsam, aber sicher für sich gewonnen, meine Vorurteile ad absurdum ge- und mich auf eine Reise durch die Zeit entführt und durch ein Wechselbad der Gefühle geschickt, letztlich das Eis gebrochen und zu Tränen gerührt. Ich kann nicht umhin, Cameron und seinem Team hierfür meinen Respekt zu zollen und einzusehen, dass auch ich wie fast jeder andere empfängliche für diese Sorte klassischen Kinos bin, sei es auch noch so modernistisch aufgebläht.

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