„Gefangenen im eigenen Netz?"
Natürlich müssen sich die Macher von The Amazing Spider-Man die Frage gefallen lassen: „Wozu das Ganze?" Und natürlich sind die vorgebrachten Rechtfertigungen und Erklärungen für einen Reboot nach gerade mal sechs Jahren dünner als Spinnenhärchen. Hier geht es nicht um eine charakterliche Neuausrichtung im Sinne einer Erdung der beliebten Comicfigur, sondern einzig und allein um das Melken der goldenen Superheldenkuh bis zum allerletzten Blutstropfen. Schließlich sollen ja auch Spinnen über ein geringes Maß an, wenn auch blauen, Lebenssaft verfügen.
Gut, dass Sam Raimi nicht mehr weiter machen wollte, ist ebenso verständlich wie tröstlich, hatte er sich doch mit seinem finalen Spiderman-Film in einem Netz aus Gigantomie und überflüssigen Handlungssträngen verfangen und ließ dabei sowohl Leichtigkeit wie auch Tempo und Frische der beiden Vorgänger schmerzlich vermissen. Anstatt „Spidey 4" hieß es nun also „alles auf Anfang". Hier hat Marvel offenbar auf den DC-Konkurrenten Batman geschielt, den Christopher Nolan sowohl monetär wie auch qualitativ in schwindelerregende Höhen katapultiert hat.
Allerdings musste Nolan lediglich zwei gleichermaßen angestaubte wie schrullige Tim Burton-Extravaganzen sowie Joel Schumachers infantilen Kirmes-Nachklapp vergessen machen.
Neu-Spiderman-Regisseur Marc Webb standen dabei ungleich sperrigere Hindernisse im Weg. Spiderman 1 und 2 gelten zu recht als kongeniale Verfilmungen der Comicvorlage und punkten vor allem mit einer nahezu perfekt austarierten Mischung aus Charakterstudie, Schauwerten und flottem Erzählduktus. Webb - wollte er etwas Eigenständiges schaffen - stand damit vor dem nicht einfach aufzulösenden Widerspruch sich von Raimis Version möglichst deutlich absetzen zu müssen, ohne dabei das nicht allzu viel Spielraum lassende Ausgangsmaterial zu verraten.
Dieses Dilemma ist dem fertigen Film dann auch deutlich anzumerken. So ähnelt die Storyline in vielen Punkten frappierend Raimis Erstling. Wieder erleben wir einen in der Schule gemobbten Peter Parker. Wieder ist es die explosive Mischung aus schüchternem Eigenbrötler und hochbegabtem Wissenschaftsnerd, die ihn zur Zielscheibe für Spott, Neid und Erniedrigung macht. Wieder kommt er durch den Biss einer radioaktiv „behandelten" Spinne zu seinen Superkräften, die er zunächst zufällig, dann aber immer zielstrebiger weiterentwickelt. Und schließlich lernen wir erneut seine Zieheltern Tante May (Sally Field) und Onkel Ben (Martin Sheen) kennen, die eine entscheidende Rolle für Peters Charterbildung und seinen Entschluss zum Vigilanten-Nebenjob spielen.
Variationen dieses Grundschemas finden sich lediglich im Detail. So sind die zur Fortbewegung und Feindbekämpfung abschießbaren Spinnfäden keine genetische Mutation, sondern ein von Parker selbst verfeinertes, technisches Gimmick aus dem Forschungslabor. Die Herzensdame des Spinnenmannes ist diesmal nicht Mary Jane, sondern Gwen Stacy (laut Comics ohnehin Parkers erste große Liebe). Auch verfällt diese erheblich schneller dem spleenigen Mitschüler und wird auch deutlich früher mit seiner nicht gerade alltäglichen Doppelidentität konfrontiert.
Und Spideys ebenfalls mit Superkräften ausgestatteter Gegenspieler ist diesmal nicht Norman Osborne selbst, sondern sein Chefwissenschaftler Dr. Curt Connors alias Lizard (der häufig zu unrecht auf seine zugegebenermaßen brüllend komischen Auftritte reduzierte Rhys Ifans darf hier wieder mal sein enormes Bedrohlichkeitspotential ausspielen). Die mutierte Reisenechse dürfte vor allem das Herz der Comicjünger höher schlagen lassen, gehört doch Lizard seit seinem Erscheinen Mitte der 1960er Jahre zu den beliebtesten Widersachern der menschlichen Spinne.
„Amazing" am neuen Spiderman ist in erster Linie der Umstand, dass trotz einer fast schon irritierend offenkundigen erzählerischen Redundanz sowohl Unterhaltungswert wie auch Tempo in der Genre-Oberliga anzusiedeln sind. Ähnlich wie beim Raimi-Original stimmt die Mischung aus Humor, Action und charakterlicher Figurenzeichnung. In erster Linie ist dies ein Verdienst von Hauptdarsteller Andrew Garfield, dem es gelingt innerhalb des engen Korsetts der Comicvorlage eine einigermaßen eigenständige Interpretation abzuliefern, die sich von Maguires Ansatz überraschend deutlich unterscheidet.
Garfield legt Parker merklich düsterer und weniger tollpatschig an, was gut mit dem insgesamt realistischeren und ernsteren Grundton des Films harmoniert. Sein Peter ist zudem grüblerischer und getriebener als in der Raimi-Version. Vor allem der frühe Verlust seiner Eltern und die damit verbundenen Ängste, Unsicherheiten und Identitätskrisen sind prägnanter akzentuiert und haben mehr Auswirkungen nicht nur auf Peters Gefühlswelt, sondern insbesondere auch auf den Fortgang der Handlung.
Diese Stimmungsmodifikation ist auch am visuellen Konzept erkennbar. Ähnlich Nolans Batman bewegt sich der Superheld in einer möglichst realistisch gehaltenen Umwelt. So ist die Neuauflage sichtlich weniger bunt und knallig. Auch der Handlungsort New York wirkt rauer, dunkler (auf sonnendurchflutete Häuserschluchten wird diesmal fast völlig verzichtet) und weniger auf Postkarten-Look getrimmt. Natürlich ist der neue Spiderman immer noch weit entfernt von einem düsteren Finsterling wie dem Mann im Fledermauskostüm. Eine versuchte Erdung von Figur und Setting ist aber im Vergleich zur Raimi-Version dennoch unverkennbar. Ob diese letztendlich eher sanfte Neuorientierung gleich eine neue Filmtrilogie rechtfertigt bzw. nötig macht, ist natürlich mindestens diskutabel.
Letztlich wird das Publikum entscheiden, ob ein stark aufspielender neuer Hauptdarsteller und eine im Rahmen der Vorlagen-Möglichkeiten eher moderate Erdung des Stoffes einen ähnlichen Leinwandsiegeszug wie die Sam Raimi-Trilogie möglich machen. Zweifellos hat Regisseur Marc Webb das Spinnennetz nicht neu erfunden, allerdings angesichts der alles andere als vielversprechenden Ausgangsposition einen mehr als soliden Superhelden-Blockbuster abgeliefert, der sich auch innerhalb der illustren Konkurrenz im Marvel-Universum nicht zu verstecken braucht. So gesehen könnte er die eingangs gestellte Berechtigungsfrage auch selbstbewusst mit einem lapidaren „Why not?" abschmettern.