Irgendwo in England, in einer Industriestadt, fährt gerade ein Zug ein. Unter den vielen aussteigenden Passagieren befindet sich Spider, ein verlorener, autistisch murmelnder, völlig in sich gekehrter, äußerlich stoischer aber spürbar unruhiger Kerl. Ihm wird nach langem Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt eine zweite Chance gegeben, zunächst in einem Pflegeheim unter der Aufsicht einer alten Frau ein neues Leben zu beginnen.
Doch stimmt etwas nicht mit ihm. Als er die Umgebung, in der er in seiner Jugend mit seinen Eltern als armes Arbeiterkind aufwuchs, wieder besucht, wird er zunehmend nervöser, paranoider. Seine Wahrnehmung scheint sich zu ändern, bewegt sich losgelöst von der Zeit zwischen Erinnerung und Gegenwart. Mit einem kleinen Notizbuch dokumentiert er die Spuren der verzweifelten, psychischen Suche nach der tragischen Wahrheit - einem Kindheitstrauma, das ihn zu dem gemacht hat, was er jetzt ist. Langsam verschmelzen schließlich Traum und Realität auf surreale Weise und Spider kommt dem Ziel seiner Odyssee näher und näher...
Spiders mythische Reise in die Tiefen seines Unterbewusstseins lebt von subtilen Metaphern, viel Symbolik und verwirrenden geistigen Projektionen und Verschmelzungen. Aus seiner eigenen subjektiven Perspektive erzählt, macht der Film den Wandel seiner Wahrnehmung lebendig - Menschen scheinen zu "wechseln", die Umgebung scheint sich seinen Erinnerungen anzupassen. Wie ein Spinnennetz sind dabei die zwei Ebenen, in denen "Spider" spielt, miteinander verwoben, die stilisierte, düstere Kindheitserinnerung geht fließend über in eine trostlose Gegenwart, wobei oft nur dezente visuelle Andeutungen die Verbindungen markieren. Cronenberg verzichtet auf Effekthascherei oder gar Action. Er lässt den Zuseher durch des Protagonisten verfremdeten Blick sehen und ihn dabei immer tiefer in sein Unterbewusstsein vordringen.
Jenes Unterbewusste, die traumatischen Erinnerungen die in die Katastrophe münden, wird aus der passiven Beobachterperspektive geschildert. Es ist die triste, dreckige Welt einer armen Familie durch verängstigte Kinderaugen gesehen: Die stickigen Arbeiterkneipen, die abgenutzten Huren, die heruntergekommene Nachbarschaft und die familiären Konflikte bekommen dadurch eine irrsinnig surreale, finster-bedrohliche und ganz und gar teuflische Dimension. Was ist dabei kindliche Fantasie und was ist grausame Wirklichkeit?
Cronenbergs subtilster und zugleich düsterster Film ist eine psychologisch extrem tief greifende, komplexe Studie über das Unterbewusstsein, das Bewusstsein, die Wahrnehmung und deren Verbindung. Eine visuell faszinierende, packende Kopfgeburt, ein anspruchsvolles Vexierspiel zwischen Wirklichkeit und Einbildung, in der Cronenbergs Vorliebe für Freud und Psychoanalyse im Allgemeinen deutlich sichtbar wird - Die psychoanalytische Version eines Film Noir, könnte man sagen. Denn der Anti-Held, eine gefangene, zurückgebliebene Seele in einer trostlosen erwachsenen Hülle driftet passiv durch die kalte, unwirtliche, überzeichnet trostlose Umgebung in seinen eigenen Abgrund hinein. 8/10.