Michael Haneke erzählt mit Liebe keine Geschichte, sondern berichtet über einen Zustand. Ein klassischer Geschichtenerzähler war der Regisseur nie, meist waren seine Themen von universalistisch gesellschaftlichem Anspruch. Etwa medial konsumierbar gemachte Gewalt bzw. dessen direkte Auswirkungen in Funny Games oder Schuld und Verdrängung in Cachè. Liebe behandelt vordergründig die tiefe Zuneigung eines alternden Ehepaares. Doch auch hier bündeln sich gesellschaftlich relevante und diskutierte Inhalte und dominieren die eigentliche Story. So ist auch Hanekes Liebe als ein weiterer filmischer Essay zu betrachten.
Haneke setzt sich mit oft tabuisierten Themen Alter(n) und den damit zusammenhängenden Folgeerscheinungen auseinander. Der geistige und körperliche Verfall sowie das Sterben, werden im Mikrokosmos einer gut situierten Bildungsbürgerfamile subsumiert.
Das routinierte, aber beschauliche Leben des Künstler- und Intellektuellenehepaars Georges und Anne (Jean-Louis Trintignant, Emmanuelle Riva) wird durch einen Schlaganfall von Anne erschüttert. Bald als Pflegefall ans Bett bzw. an den Rollstuhl gefesselt, bringt sie sowohl sich selbst als auch ihren Ehemann in ernsthafte emotionale Konflikte. Sie, voller Angst und Scham gegenüber ihrer verlustig gehenden geistigen und körperlichen Kontrolle sowie ihrer absehbaren, unausweichlichen Hilflosigkeit und er, immer mehr überfordert mit ihrer Pflege und der tiefen psychischen Belastung, sich ihren Verfall mit ansehen zu müssen.
Das intensive Spiel von Trintignant und Riva funktioniert weniger über geschliffene Dialoge, die ihnen Haneke in den Mund legt, sondern meist über ausgetauschte Blicke und nonverbale Gesten, die auf die unerhört tiefe Emotionalität schließen lassen. Das extrem hohe Niveau wird von beiden Schauspielern die volle Zeit beibehalten. Die Gefühle der Handelnden werden erahnt und empathisch mitgefühlt. Etwa wenn Anne wütend und schamerfüllt gegenüber ihrem Mann angesichts ihrer aufgetretenen Inkontinenz mit unbeholfener Flucht vor ihm reagiert. Die gestörte Sprachmotorik, Lähmungen und der rasante geistige Verfall spitzen sich im Laufe des Filmes immer mehr auf die Frage zu, ob ein rascher Tod - sprich Euthanasie - als Lösung nicht „gnädiger“ wäre.
Obwohl Haneke jedwede Romantisierung und Verniedlichung des Themas konsequent ablehnt, verliert sich dieser an sich betont nüchterne Blick doch auch gelegentlich in mindestens verdächtigen Symbolismus. Die offensiv dargestellte Kultiviertheit und Belesenheit des Ehepaars, die mit Alter, Pflege und Tod konfrontiert wird, scheint nur aufgrund einer höheren Fallhöhe dieser Kontrastierung zu dienen. Haneke, wie üblich ganz Bildungsbürger, schöpft aus jenem Leidenweg noch ein Maximum an Symbolträchtigkeit heraus, indem es mit dem Verlust bzw. dem Vergessen von allem kulturrelevanten Wissen einhergeht, dass sich ein Geistesmensch wie Anne in ihrem Leben nur angedeihen lassen konnte. Anne, bereits ein körperliches wie geistiges Wrack, setzt Haneke urplötzlich in einer Szene schwelgerisch eingefangene Kunstgemälde gegenüber. Spätestens hier wird der Regisseur rückfällig in alte Gewohnheiten und setzt plump und weltfremd Akademikerwissen und geschichtlich gewachsene Kultur vor Menschlichkeit und Mitgefühl. So will diese Überbetonung von Bildungsstand und Kunstbeflissenheit wohl nur in Hanekes klassendenkerischer Welt mit der universalen Tragik des Alterns und Sterbens zusammenpassen. Gerade in Anbetracht der vielen ausnehmend hervorragenden Szenen des Filmes und des zurückhaltenden narrativen Stils, der sich mehr auf Fragen stellen, denn aufs großspurige beantworten konzentrierte, stoßen solche Momente ungut auf.
Glücklicherweise, oder trotzdem, besitzt Liebe mehr als solche Befremdlichkeiten und regt erstaunlich stark zum Nachdenken an. Ungeschönt aber weder kalt noch zynisch werden hier ganz unaufdringlich fundamentale Fragen verhandelt, z.B. bezüglich der Wertigkeit des Lebens an sich (sind geistiger und körperlicher Verfall tatsächlich ein Grund, dem Leben – und sei es dem eigenen – den Wert abzusprechen?), oder den aufgezwungenen Rollen der pflegenden Partner, die mindestens in eine moralische Zwangslage gebracht werden. Auch die Rolle der Kinder (Isabelle Huppert), wird kritisch nach den herablassend bevormundenden Einstellungen gegenüber ihrer Eltern hinterfragt. Natürlich schwingt auch immer das momentan hochemotional diskutierte Thema des gesellschaftlichen Umgangs mit betagten Menschen subtil mit hinein.
Dass was diesem Film, aber wirklich zu einem ausnehmend guten macht, ist die ungewöhnlich homogene Mischung zwischen großartigem Schauspiel und subtiler Inszenierung. Langes Schweigen, das ob des unausgesprochenen Beklemmung und Verlegenheit erzeugt, Bilder von kühler Nüchternheit, doch niemals distanziert, wo jedes Knarzen des Fußbodens, oder Rascheln der Bettdecke zum bedrückenden Verstärker der nicht ausgesprochenen Emotionen wird. Der Film erzeugt meisterlich eine dichte und exakt durchkomponierte Stimmung, die auch souverän bis zum Ende durchgehalten wird.
Angesichts seiner etwas spaß- und lustfeindlichen Herangehensweise wird Haneke sein Publikum wohl nie wirklich lieben und umgekehrt, werden sich wohl nur wenige Zuschauer finden, die seine ausdrücklich kühl distanzierten, zermürbenden und leider immer wieder demagogischen Filme ins Herz schließen. Mit Liebe hat Haneke vielleicht zum ersten Mal einen Film gemacht, der einen eher rührt als großmäulig Betroffen machen soll. Mit anderen Worten: sein bis Dato bester Film.