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Wenn ein Regisseur seinen Film "Liebe" nennt, muss ihm bewusst sein, dass er sich damit automatisch den Assoziationen stellt, die dieser Begriff bei jedem Menschen auslöst. Noch mehr als im realen Leben, steht die "Liebe" im Kino für ein emotionales Empfinden, das alle anderen Aktionen in den Schatten stellt, das nicht nur Lust und Schmerz einbezieht, sondern immer Vitalität, Hoffnung und Kraft ausstrahlt - und dadurch die Aussicht auf Veränderung.

Doch Haneckes Protagonisten sind mehr als 80 Jahre alt, Intellektuelle, die ein Leben zu Zweit in ihrer großen Pariser Wohnung verbringen, umgeben von klassischer Musik und Literatur. Anne (Emanuelle Riva) und Georges (Jean-Louis Trintignant) haben eine Tochter, Eva (Isabelle Huppert), selbst schon über 50 und kinderlos, die mit einem englischen Dirigenten in einer unsteten Beziehung zusammen lebt, mit dem sie meist auf Tournee ist. Ob sie nur wenige Freunde haben oder diese größtenteils verstorben sind - Georges geht einmal ziemlich ungern auf eine Beerdigung - lässt Hanecke offen, aber er verzichtet auf die idealisierte Großfamilie und bleibt in der mitteleuropäischen Realität einer autonomen Lebensform, die die Menschen im hohen Alter zunehmend allein werden lässt.

Ein Alleinsein, das keineswegs mit Einsamkeit zu verwechseln ist, denn Anne und Georges fühlen sich wohl miteinander, drücken keinerlei Sehnsucht nach anderen Menschen aus, nicht einmal nach ihrer Tochter, sondern legen viel Wert auf ihre Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit. Um so mehr ist es ein Schock für sie, als Anne einen Schlaganfall bekommt und rechtsseitig gelähmt bleibt. Sie ist nicht nur auf den Rollstuhl angewiesen, sondern auf die Hilfe anderer Menschen, worunter die Klavierlehrerin, die früher Hochbegabte zu Konzertpianisten ausbildete, besonders leidet. Nachdem sie in diesem Zustand wieder nach Hause entlassen wurde, muss Georges ihr versprechen, sie nicht wieder in ein Krankenhaus einliefern zu lassen.

Hanecke entwickelt die Charaktere ganz langsam, ohne übergeordnete Erläuterungen, so dass zu Beginn, als sie von einem Konzert nach Hause zurückkehren, einen Moment der Eindruck entsteht, ihr Kind oder Enkelkind hätte gespielt, so voller Stolz sprechen sie von dessen pianistischen Leistungen. Tatsächlich handelt es sich um einen früheren Schüler, der sie in einer beeindruckenden Szene überraschend besucht, ohne von der Behinderung seiner früheren Lehrerin zu wissen. Mehr äußere Emotionen lässt Hanecke in seinem Film nicht ausdrücken. Das Wort "Liebe" fällt nur zweimal im sprachlichen Zusammenhang, nie direkt an ein Gegenüber gerichtet. Die gewohnte Umsetzung eines liebevollen Miteinanders - Spontanität, Freude, auch Streit oder Verletzungen, finden nicht statt - und doch ist Haneckes Film voller Liebe.

Der Film idealisiert keinen Moment eine seiner Figuren, bleibt ganz nah an traditionellen Verhaltensmustern - Georges steht erst auf, um sich selbst Salz zu holen, als Anne wiederholt nicht reagiert (er begreift in diesem Moment noch nicht, das sie einen Schlaganfall hat) - und verfällt auch nicht in charakterliche Veränderungen, als Anne zum Pflegefall wird, sondern beschreibt diese Situation ganz pragmatisch. Dabei lässt er kein Details aus, zeigt die hilflosen Versuche, wieder Bewegungen einzustudieren, ihren zunehmenden Sprachverlust, bis zum Windeln wechseln und duschen im Rollstuhl. Georges bleibt sich in seinem Verhalten genauso treu wie Anne, die darunter leidet, Anderen zur Last zu fallen, aber ihre Beziehung ist trotz der zunehmenden Belastung immer von gegenseitigem Respekt erfüllt.

Die Liebe dieser beiden Menschen zueinander zeigt sich in Details, in Nuancen, für die sich Hanecke sehr viel Zeit lässt, um ihnen den notwendigen Raum zu geben. Sie zeigt sich nicht in sprachlicher Direktheit, spart auch Momente der Ungeduld und des Unglücks nicht aus, sondern sie verbirgt sich in einem tiefen Verständnis, das sich nur bei genauer Beobachtung erschließt. Die Kamera führt entsprechend kaum Bewegungen aus, verbleibt lange in ihrem Blickwinkel und erlaubt es dem Betrachter damit, die Szenen genau zu betrachten - den Bildaufbau, das Licht und jedes Detail der Einrichtung. Indem er sich innerhalb einer Szene immer auf eine Person konzentriert – mal die agierende, mal die passiv zurück gebliebene - erzeugt er teilweise eine unglaubliche Spannung. Etwa als Georges so schnell wie es sein Alter erlaubt zur Garderobe geht, um einen Arzt zu rufen, nachdem Anne nicht mehr reagierte, und plötzlich das Wasser, das er vergessen hatte abzudrehen, stoppt. Oder wenn die Kamera bei dem jungen Pianisten und ehemaligen Schüler bei dessen Besuch verweilt, während Georges seine Frau holt. Seine Nervosität und Anspannung ist zu spüren, seine Unruhe allein in dem ihm fremden Zimmer füllt den Raum - bis Anne erscheint und sein inneres Aufatmen zu spüren ist, trotz des gleichzeitigen Schrecks über ihren Zustand.

Es gibt viele Momente dieser Intensität, auch ganz raue Augenblicke der Realität, die Hanecke in exakten Bildern und einer klaren Sprache zeigt, ohne dabei in übertrieben ästhetische Kompositionen zu verfallen oder prätentiöse Gedankenspiele zu befriedigen. Im Gegenteil ist sein Film von einer Einfachheit in Bild und Story, die gleichzeitig Spannung und Anteilnahme erzeugt, ohne in sentimentale Fahrwasser zu geraten. Die mehr als zweistündige Laufzeit ist notwendig, um die emotionale Beziehung zwischen den Protagonisten erfahrbar werden zu lassen und sie kann jede Minute fesseln, wenn man sich auf Haneckes gegen den aktuellen Kino-Trend gestellten Stil einlässt. „Liebe“ ist kein künstliches Konstrukt, kein Experiment, auf das man sich für zwei Stunden einstellt - fast wirkt es nebensächlich, die hervorragenden Schauspielerleistungen und konsequente Bildsprache zu loben - sondern verlangt, sich auf Emotionen einzulassen, die nicht mit der inzwischen gewohnten Leichtigkeit serviert werden – dann wird „Liebe“ zu einem wunderschönen, positive Gefühle erzeugenden Erlebnis. (10/10)

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