Die Jagd von Thomas Vinterberg ist einer jener Filme, die einem die Kehle zuschnüren. Man greift nach dem Knauf, um die Tür zu diesem Film zu öffnen, und dieser schlägt einem die Tür mit voller Wucht ins Gesicht. Man spürt Schmerz, schmeckt das Blut der Seele, und die Tränen der gebrochenen Nase brennen in den Augen.
Kurz zum Inhalt: Die junge Klara verliebt sich in ihren Kindergärtner Lucas (Mads Mikkelsen) und küsst ihn in einem unbeobachteten Moment. Doch Lucas erwidert ihre Gefühle natürlich nicht. Klara ist verletzt und erfindet eine Geschichte, die sie der Kindergartenleiterin erzählt. Lucas habe sie angeblich sexuell genötigt. Dies tritt eine Welle los, die Lucas völlig isoliert und vorverurteilt. Denn Klara ist die Tochter seines besten Freundes.
Dass sich der Strick um Lucas Hals zu rasch so eng zusammenschnürt, liegt auch daran, dass die Handlung in eine kleine Stadt, eher ein Dorf, verlegt wurde. Hier kennt jeder jeden und das Gerücht um Lucas pädophile Neigung verbreitet sich schnell. Die Jagd ist ein Meisterstück der Suspense, denn nur wir Zuschauer wissen um die Wahrheit und möchten sie jedem, der Lucas angreift, entgegen schreien. Ich war hin- und hergerissen ob der Frage, ob ich die Kindergartenleiterin, die die "Ermittlungen" gegen Lucas ins Laufen bringt, bewundern soll, weil sie der kleinen Klara glaubt, oder ob ich sie hassen soll, weil sie nur kurzzeitig Lucas eine Chance gibt, sich zu erklären.
Lucas befindet sich eh in einer heftigen Lebenskrise. Den Job als Lehrer verloren, lebt er getrennt von seiner Frau und kämpft um das Sorgerecht für seinen Sohn. Und nun kehren ihm seine Freunde, die ihm Lebensfreude schenken, den Rücken zu. Mads Mikkelsen spielt den immer mehr vereinsamenden Lucas mit einer Intensität, wie nur er es kann. Sein Gesicht spricht Bände, die Kamera konzentriert sich darauf, alle Emotionen in seinem zu Eis erstarrten Gesicht zu zeigen. Im nächsten Moment bricht aber auch die blanke Wut der Verzweiflung aus Lucas heraus, was einen als Zuschauer sehr nah an diese Figur bringt.
Die Jagd enthält sich jedes moralischen Urteils. Der Film zeigt in all seiner skandinavischen Ruhe, wie sich eine solche Situation abspielen könnte und lässt dem Zuschauer den Raum, ja er zwingt den Zuschauer in den Raum, in dem er selbst entscheidet, auf wessen Seite er steht. Denn im Grunde versucht sich ein Unschuldiger nur zu verteidigen. Zu verteidigen gegenüber anderen, die von seiner Unschuld nicht wissen, und die ihrem Wissensstand nach nachvollziehbar handeln.
Die Schauspieler agieren alle auf höchstem Niveau. Besonders Lucas bester Freund Theo hat bei mir Gänsehaut hervorgerufen. Die Trauer, die Verzweiflung und die Wut ob dem, was seiner Tochter angeblich zugestoßen ist, gepaart mit der moralischen Verantwortung gegenüber seinem (ehemals) besten Freund bringt Thomas Bo Larsen mit jeder Geste auf die Leinwand. Die Kamera leistet hervorragende Arbeit. Sie findet die perfekte Symbiose aus distanzierter Darstellung der Handlung und der nahezu unmittelbaren Nähe zu den Figuren.
Fazit:
Die Jagd befasst sich mit einem schwierigen Thema. Der Film schafft es zu jeder Minute, dem Zuschauer keine Moral aufzudrücken. Thomas Vinterberg konzentriert sich darauf, die Geschichte filmisch auf höchstem Niveau, mit den Gefühlen und der Intensität eines Dramas und der Spannung eines Suspense-Thrillers zu erzählen. Dies gelingt mit sehr ruhigen Phasen und emotionalen Ausbrüchen hervorragend. Nur wir Zuschauer kennen die Wahrheit und sind dennoch von der ersten bis zur letzten Minuten mit diesem Film beschäftigt. Denn eine Wahrheit findet jeder Zuschauer erst am Ende oder noch später: Wie nachvollziehbar sind die Reaktionen der Menschen in der Geschichte und wie stimmen diese mit meinen eigenen überein. Die Jagd stellt die Frage nach dem Vertrauen. Und nicht nur dem Vertrauen gegenüber Lucas. Sondern auch dem gegenüber Klara, die zunächst eine Geschichte erfindet, die man ihr glauben muss, um sie zu schützen. Und das Vertrauen in die Wahrheit dieser Geschichte ist aufgrund des Beschützerinstinktes so groß, dass keiner später Klaras Aussage vertraut, dass sie eben jene Geschichte nur erfunden hat. Der Film stellt auch die Frage des Vertrauens in die Psychologie. Und damit stellt der Film die Frage nach dem Vertrauen in die eigene Urteilskraft gegenüber dieser Thematik, denn alle Parameter Täter, Opfer, Glaubhaftigkeit sowie Opferschutz und Täterverurteilung werden hinterfragt. Die Antwort findet jeder in sich, der bereit ist, sich die Tür ins Gesicht schlagen zu lassen.
10/10