Kindesmissbrauch ist ein sehr heikles Thema. Selten wird es so differenziert und einmal von einer anderen Seite beleuchtet wie in DIE JAGD. Ich verzichte hier bewusst auf ein detailliertes Wiederkäuen des Inhalts um Interessierten nicht den Genus zu verderben, möchte aber versuchen die wesentlichen Stärken zusammenzufassen und Werbung für ein phantastisches Drama zu machen. Nicht vorab alle Details der Handlung zu kennen ist wie bei meiner Sichtung selbst ein großer Vorteil. Denn DIE JAGD spielt dabei all seine Stärken im Sinne der völligen Ungewissheit wohin sich die Geschichte entwickelt aus. Regisseur Vinterberg spielt geradezu teuflisch mit diesem Unwissen und hält uns in sehr intensiver und beklemmender Form einen gesellschaftlichen Spiegel vor.
Die Geschichte des Kindergärtners Lucas und der ihn belastenden kleinen Klara sowie die Entwicklungen der ganzen Dorfgemeinde beginnt fast wie eine Komödie und der erfahrene Zuschauer merkt sofort, dies ist nur die Ruhe vor dem Sturm! Dieser kommt nämlich dann mit aller inszenatorischen Wucht nicht durch äußere Umstände, Wendungen oder emotionale Überhöhung. DIE JAGD legt den Finger in die Wunde des Themas und beschönigt nichts. Allein durch das agieren von Lucas und den wichtigsten Nebenfiguren entsteht eine immer stärker werdende Spannung, die den Zuschauer immer mehr an die Geschichte bindet und DIE JAGD bietet unglaublich hohes Identifikationspotential mit den Handelnden und bezieht daraus seine nachhaltige und intensive Wirkung.
Der lächerlich wirkende Ursprung der Vorwürfe und wie Erwachsene ihren Kindern nicht zuhören, lässt die eigenen Emotionen gezielt hoch kochen. Allein wie der Auslöser in der kleinen Klara entsteht, könnte lange im Rahmen der Kindespsychologie, des gekränkt seins, der nicht erwiderten Gefühle im Kindesalter diskutiert werden. Die in ähnlich gelagerten Filmen oft sehr in der Kritik stehenden Pädagogen im Kindergarten reagieren zunächst sogar recht bedächtig und gehen zunächst fair mit Lucas um. Diese angemessene pädagogische Reaktion ist in anderem Kontext (z.B. in Film KLASS) längst nicht der Fall. In DIE JAGD verbreitet sich dann aber der Virus der Vorverurteilung langsam aber unaufhaltsam unter den Beteiligten.
Dies schnürt unserer Hauptfigur Lucas wie dem Zuschauer langsam aber sicher die Kehle zu. Fast alle sozialen Kontakte werden im Laufe der Handlung hinterfragt und die Isolation und sogar die Gefährdung des eigenen Lebens scheint grenzenlos. Erfolgreich schrammt der Film an der Grenze zum Thriller entlang. DIE JAGD bietet auch Raum für Selbstreflexion über das Thema im Kreise der verbliebenen letzten Freunde von Lucas. Schauspielerisch muss man auch das Mädchen der kleinen Klara loben und sich stets fragen, wie es kleine Kinder in diesem Alter schaffen so differenziert zu spielen über ein Thema, welches sie selbst noch gar nicht emotional/rational in vollem Umfang verstehen können. Lucas Sohn Marcus spielt auch eine gute ergänzende Rolle.
Die vielen möglichen zu diskutierenden Aspekte von DIE JAGD können gar nicht alle adäquat angesprochen werden. Die Kamera leistet perfekte Arbeit und hält oft auf das ausdrucksstarke Gesicht von Mikkelsen, auch mal gerne von schräg oben um das Gefühl des drohenden Unheils zu verstärken. Mikkelsens Leistung ausreichend zu würdigen würde auch den Rahmen sprengen. Er ist eh einer meiner Top Actors und dies habe ich aber auch angesichts seiner vielen guten Performances in den letzten Jahren (u.a. NACH DER HOCHZEIT, DIE TÜR, WALHALLA RISING, um mal meine Favoriten zu nennen) an diesen Stellen schon getan.
Ist es angemessen bei solch einem starken Drama Dinge zu kritisieren? Ich finde ja. Lucas minimalistische und manchmal sehr impulsive Verteidigungsstrategie sorgt für zusätzliche Probleme im Film und bringt ihm eher argumentative Nachteile. Seine Passivität und zurückhaltende Art fast ohne explizite Gegenargumente strapazieren den eigenen Gerechtigkeitssinn auf das Stärkste. Aber sicherlich ist dieses Verhalten bewusst so in der Rolle angelegt und insgesamt natürlich nicht unrealistisch bei eher introvertierten Menschen. Rein formal betrachtet halte ich dramaturgisch ich DIE JAGD nicht für perfekt. Es dauert für mein Gefühl etwas lange bis es zum Eklat kommt und die fast Stunden Laufzeit hätten etwas gekürzt werden können.
Aber das sind Kleinigkeiten im Kontext eines großartigen Films. Gut ist hingegen, dass weder die juristischen noch polizeilichen Ermittlungen oder Verhöre eine große Rolle wie in sonst üblichen Dramen oder Thrillern spielen. Dies wäre auch etwas fehl am Platz. Zum Glück geht es in DIE JAGD rein um die zwischenmenschliche Ebene, die der Film grandios und sehr detailliert in der Hin- und Hergerissenheit diverser Protagonisten ausleuchtet. Auch das Ende selbst wird sicher für einige Diskussion sorgen, da Regisseur Vinterberg auch nicht wie vielleicht erwartet oder spektakulär vorgeht. Er schafft es sogar am Ende in fast diabolisch grinsender Form, dass wir an der Integrität unserer Hauptfigur zweifeln.
Das ist nach fast zwei Stunden mitfiebern eine große dramaturgische Leistung. Obwohl Mads Mikkelsen als Darsteller längst selbst in Hollywood angekommen ist, spekuliere ich einmal - ohne dies tatsächlich recherchiert zu haben - auf mögliche Absichten Hollywoods, auf ein weiteres überflüssiges US-Remake um mit bekannten Namen noch mal Kasse zu machen. Aber wer soll mit der Performance und dem wandelbaren und leidensfähigen Gesicht von Mads Mikkelsen nur annährend gleichziehen? Ich habe schon Ideen, aber ich halte mich hier mal zurück und wir können dies gern im Kommentarbereich diskutieren… ^^
8,5/10 Nasenrümpfern....äh,....Punkten