Es dauert eine ganze Weile bis man DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN im Verlauf des Films würdigen kann, denn in den ersten 30 Minuten bekommt man ein einigermaßen zielloses Sozialdrama vorgesetzt. Wie sich dann aber diverse weiter unten genannte Puzzleteile zusammenfügen verschlägt einem fast die Sprache und wirkt noch lange nach dem Abspann nach. Will man ROST UND KNOCHEN noch in den ersten 20 Minuten in eine filmische Ecke stellen werden diese Vorurteile von dem Dargebotenen erfolgreich zerbröselt. Die Mischung aus einem rauen sozialkritischen Film hin zu einem ergreifenden und gleichzeitig poetischen Liebesdrama mit Kampfsportelementen ist so ungewöhnlich, mir fällt kein Vergleich zu einem ähnlichen Film ein.
Die Geschichte von Ali (Matthias Schoenaerts) der mit seinem kleinen Sohn nach Canne zieht und dort als Türsteher die bei einer Orca-Show arbeitende Stéphanie (Marion Cotillard) trifft und wie sich ihre Beziehung durch eine Reihe von Zufällen entfaltet hat eine Reihe von Facetten und Storyschlenker die hier nicht in wiedergegeben werden sollen. ROST UND KNOCHEN wirkt am besten wenn man sich nicht vorher ausführlich über die Details der Handlung informiert. Ich werde deswegen einige Dinge umschreiben und nicht exakt benennen für die, die sich ROST UND KNOCHEN noch unvoreingenommen anschauen wollen. Dazu sei hiermit eine ganz große Empfehlung ausgesprochen.
Dennoch sei zumindest so viel erwähnt, dass die sich entwickelnden Gefühle zwischen Stéphanie und Ali jeglicher Klischeedarstellung entziehen und deswegen zunächst sogar in ihrer Anbahnung etwas unglaubwürdig erscheinen. Er ist der raubeinige und einfach strukturierte Arbeiter dem jegliche Intellektualität am A….vorbei geht, sie die feinsinnige und attraktive Frau mit fast künstlerischem Beruf. Im späteren Verlauf der Handlung zündet genau diese Mischung bei ihr. Sie möchte in ihrer Situation alles, nur kein Mitleid, und er bietet ihr genau das. Er tut ihr sehr gut. Auch wenn er sie auch mal unvermittelt in ihrer nicht leichten Situation völlig aus dem Nichts fragt "Willst Du fi…en?" ist diese unverblümte Art sehr stimmig in seinem rational-unverkopften Charakter angelegt.
Seine Lieblingssätze sind meist kurz und gern genutzte Ausdrücke sind "normal", "warum nicht?" "na klar". Stéphanie und damit auch der Zuschauer schütteln öfter mal den Kopf aufgrund dieser Leichtigkeit der Formulierungen die erstaunlicherweise im nüchternen Rückblick viel Wahrheit enthalten. Es entwickelt sich ein geradezu außergewöhnliches Liebesdrama, das in diversen Szenen kaum unromantischer sein kann aber dennoch mitten ins Schwarze trifft. ROST UND KNOCHEN kommt ohne das übliche Gefühlsschmalz aus und verfügt über einen guten Schuss rauer Erotik, die in ihrer Offenheit bzgl. körperlicher Einschränkungen in einigen Szenen fast fetischhafte Züge trägt.
Auch hier sind aufgrund dieser Konsequenz kaum filmische Vorbilder nennbar. Filmtechnisch bestechen die lichdurchfluteten Bilder, oft mit Gegenlicht und einer sehr aufwendigen Kameraführung die mal zart im Hintergrund, dann aber wieder ganz nah am Geschehen und den ausdrucksstarken Gesichtern der Protagonisten ist. Auch die Synchronisation ist quasi perfekt und unterstützt das variantenreiche Spiel der Darsteller. Es gibt einige Szenen die sich gut in das Gehirn gefräst haben, dazu gehört für mich auch die sehr emotionale Wiedersehensszene von Stéphanie mit einem Orca. Obwohl diese Shows reine Tierquälerei sind. Individuelle Gefühle werden bei ROST UND KNOCHEN stets nicht aus dem Focus verloren und stehen gleichberechtigt neben den sozialkritischen Tönen.
Dabei kommt ROST UND KNOCHEN seine vermeintliche Ziellosigkeit zu Gute und der Zuschauer weiß nie in welche Richtung sich das Ganze entwickelt. Schauspielerisch versteht es Marion Cotillard als Stéphanie in wenigen Minuten den Zuschauer an ihr Schicksal emotional zu binden und eine starke Identifikationsfigur bis zum Ende abzugeben. Matthias Schoenaerts als Ali verkörpert den "natürlichen Wilden" sehr intensiv glaubwürdig. Der Film ist nicht perfekt und trägt in einigen Szenen auch zu dick auf, aber insgesamt moralisiert er nicht und wirkt so authentisch als hätte ich gerade eine verfilmte Geschichte von Freunden gesehen. Man könnte Stunden über den Film schreiben und das ist meist ein gutes Zeichen, deswegen gibt es eine große Empfehlung für Freunde ungewöhnlicher Dramen!
7,5/10 Hundewelpen....äh,....Punkten