Gekonnt wandelt Regisseur Jacques Audiard in „Der Geschmack von Rost und Knochen" (im folgenden "Rost und Knochen") zwischen Drama und Liebesgeschichte. Zwar umweht sein Unterschichtenmärchen stets ein abgeschmackter Hauch von Elendstourismus, die beiden grandiosen Hauptdarsteller Matthias Schoenaerts und Marion Cotillard machen den Film aber dennoch sehr sehenswert. Den guten Gesamteindruck schmälert ein unnötig konstruiertes Ende, das innerhalb der charaktergetriebenen Story des Films wie ein Fremdkörper wirkt.Ein verhängnisvoller Arbeitsunfall ändert das Leben der selbstbewussten Wal-Dompteurin Stéphanie (Marion Cottillard) radikal. Durch den spröden Ali (Matthias Schoenaerts), einem mittellosen Straßenkämpfer und Gelegenheits-Türsteher, schöpft sie neuen Lebensmut. Als sich aus der anfänglichen Freundschaft mehr entwickelt, müssen sich beide entscheiden: Hat ihre Beziehung trotz aller Unterschiedlichkeiten eine langfristige Perspektive?
Die Bebilderung sozialer Unterschichten hat einen festen Platz nicht nur im franzözischen Autoren- und Indepentendkino. „City of God" (2002), „Slumdog Millionär" (2008), „Sin Nombre" (2009), „Winter‘s Bone" (2010) und „Beasts Of The Southern Wild" (2012) sind (z.T. oscar-) prämierte Beispiele der jüngeren Filmgeschichte, denen es neben der Handlung immer auch um eine Milieustudie geht. Die überdurchschnittlich gebildete und privilegierte Kritik und das entsprechende Arthouse-Publikum goutieren den vermeintlich rohen, authentischen Blick in ein anderes, exotisches soziales Milieu. Auf der anderen Seite laufen diese Filme zwangsläufig Gefahr einer romantisierten Betrachtung von Armut, eines verklärten Blicks der Ober- auf die Unterschicht. Vergleichbar mit dem positiv-rassistischem Klischeebild des „Edlen Wilden" (vgl. auch „Avatar" 2009) werden hier zum Teil fremde Kulturkreise oder Milieus immer auch mit idealisierten Attributen der privilegierten Betrachter aufgeladen. Die dadurch offensiv ausgestellte politisch korrekte Toleranz des vermeintlich aufgeschlossenen Arthouse-Publikums sowie ihrer Filmschaffenden entlarvt sich so schnell als komplettes Gegenteil.
Auch „Rost und Knochen" (2012) tappt mitunter in diese Falle, indem er die Figur der Boxers Ali den Part des „Edlen Wilden" einnimmt, der einer eher kopfgesteuerten Stéphanie mit seinen einfachen Tugenden wieder neuen Lebensmut einhauchen darf. Das fällt zwar ein ganze Ecke subtiler aus, als beispielsweise in dem verblüffend ähnlich konzipierten „Ziemlich beste Freunde" (2012) - mit all seiner ehrlichen Direktheit, Handel-statt-Reden- sowie raue-Schale-weicher-Kern-Mentalität, Brutalität und Triebhaftigkeit entspricht Ali allerdings zu großen Teilen den idealisierten Klischeevorstellungen des Bildungsbürgertum über den einfachen Mann. Er bleibt trotz der intensiven Darstellung des großartigen Darstellers Matthias Schoenaerts bis zum Ende nicht viel mehr als eine Projektionsfläche für die eigenen Sehnsüchte und Unzulänglichkeiten des Bildungsbürgers. Dazu gehört freilich auch, dass die schlaue Stéphanie dem dummen Ali am Ende eine Lektion in Sachen Verantwortung und Zielstrebigkeit erteilten darf. Nun ist diese Stéphanie zwar selbst keine Intellektuelle, bildet für das Zielpublikum aber weitaus mehr Identifikationsfläche, als der schroffe Türsteher, dessen impulsive und unbeholfene Art der Film stellenweise durchaus freimütig der Lächerlichkeit preisgibt. Ohnehin kommt man als Zuschauer niemals wirklich dahinter, was genau Stéphanie zu Ali hinziehen könnte, ganz zu schweigen von der Frage, weshalb sie in ihrer finstersten Stunde ausgerechnet einen zwielichtigen Türsteher kontaktiert, den sie keine halbe Stunde kennt. Dabei verliert der Film die einzige echte Identifikationsfigur und Protagonistin Stéphanie zu oft aus dem Fokus und gönnt der Figur Ali mehr Screentime als nötig.Regisseur Jacques Audiard findet für sein Unterschichten-Märchen einige sehr originelle Bilder wie den Aqua-Themenpark, in dem das Prekariats befreit von lästigen Ethikfragen bezüglich Tierquälerei ihre niederen Vergnügungsinteressen bedienen können. Auch die emotionale Einbindung einer besonders kitschigen Popnummer der Trashqueen Katy Perry gehört zu den besseren Einfällen Audiards, insgesamt sticht der ansonsten recht us-indifolk-lastige Soundtrack positiv hervor. Ein wenig ausgelutscht und unglaubwürdig wirkt hingegen das Straßenkämpferszenario, bei dem Stéphanie zwischenzeitlich sogar zum Lokal-Pimp aufsteigen darf. Auch die Vater-Sohn-Geschichte überzeugt nicht wirklich. Sie wirkt mit zunehmender Zeit gar redundant und entpuppt sich zum Ende als reiner Plotdevice für das Finale.
Reichlich Rost und Knochen im Getriebe möchte man meinen, aber abseits davon besitzt der Films aber unbestritten einen ganzen Haufen unzweifelhafte Stärken. Schon das kraftvolle Schauspiel, insbesondere der beiden Hauptdarsteller überwältigt. Matthias Schoenaerts ist eine echte Naturgewalt und erweckt einen Charakter zum Leben, der gleichzeitig hassens- und liebenswert ist. Marion Cotillard zeigt erneut Oscarqualitäten und reißt das emotionale Zentrum des Films mit einigen wenigen Gesten an sich. Dabei umschifft Jacques Audiard clevererweise gängige Plotentwicklung und schafft es so, den Zuschauer ein ums andere Mal zu überraschen. So gerät die Trauerbewältigung Stéphanies angesichts ihres Schicksalsschlages überraschend kurz (aber nicht minder intensiv) und der Schwerpunkt der Geschichte liegt ganz auf der brüchigen Beziehung zwischen Ali und Stéphanie. Dabei streift Audiard einige soziale Brennpunkte dankbarerweise ohne moralisieren zu wollen. Insgesamt entwickelt sich ein Großteil der Dynamik im Verlauf des zweiten Aktes aus der Unterschiedlichkeit der beiden Protagonisten und wirkt so unglaublich authentisch und glaubhaft. Diesen Gesamteindruck zerstört Audiard dann ungünstigerweise im Finale, als ein erneuter Schicksalsschlag konstruiert wird, um eine Klammer um die Handlung und die beiden Protagonisten zu bekommen. Diesem Deus Ex-Machina hätte es gar nicht bedurft, schlimmer noch, es schmälert das Endergebnis beträchtlich.„Rost und Knochen" ist ein wuchtiges Liebesdrama über die Überwindung körperlicher und seelischer Verkrüppelungen, was stets nur gemeinsam erfolgen kann. Obwohl die Inszenierung -vor allem der Figur des Ali- stellenweise in die Niederungen des Elendstourismus abgleitet, vermeidet Regisseur Audiard dankbarerweise jeglichen moralischen Zeigefinger und erzielt so eine umso größere Wirkung. Vor allem das konstruierte Finale steht den Charakteren und damit dem gesamten Film am Ende leider ein wenig im Weg. Für Freunde des französischen Arthousekinos aber ganz sicherlich empfehlenswert.
Daran werde ich mich erinnern: Die Killerwale