Review

"Psycho" nimmt in meiner Wahrnehmung der Geschichte des Kinos in seiner Bedeutung auf jeden Fall einen der vorderen Plätze ein.

Beinahe erscheint es mir anmaßend, überhaupt über eine andere Wertung als 10 Punkte nachzudenken, wobei die eigens empfundene Langeweile während einiger Momente zwar Fakt ist, jedoch der Genialität jeder einzelnen Einstellung nicht gerecht wird. Natürlich ziehen einen manche Szenen weniger in den Bann und wirken heutzutage antiquiert. Für seine Zeit gesehen ist "Psycho" jedoch unbestreitbar ein Meisterwerk des Kinos, dessen Wirkung auf die Entwicklung des Films bis heute kaum zu bemessen ist.

Die Gründe für die exponierte Bedeutung im filmischen Kosmos sind aus heutiger Sicht jedoch nicht allzu leicht nachvollziehbar.


Das Brechen von Erwartungen und überschreiten von Grenzen

Der eigentilche Clou Hitchcocks bestand wohl darin, den Film in einer langen Expostion aufzubauen, diese aber letztlich mit dem Tod der Protagonistin gefühlt ebenfalls sterben zu lassen. Selten ist dem Publikum hochbudgetierter Filme so vor den Kopf gestoßen worden, hat es doch nach einer halben Stunde konkrete Vorstellungen, wie der Film weiterlaufen wird. Es folgte bis dahin einer jungen Frau, die Geld veruntreut hat und flieht mit ihr zusammen in ein abgelegenes Motel.

Ab dem Zeitpunkt des wahrhaftig schockierenden Mordes wechselt der Film seine narrative Perspektive und rückt die Figur des Norman Bates in den Mittelpunkt. Hier wähnt das Publikum diesen jedoch nur als armen und schwachen Muttersohn, der die Taten einer kranken und dominanten Mutter vertuscht. Als der Schluss offenbart, dass man es mit einem extrem gestörten Charakter zu tun hat, dessen pyschische Krankheit der wahre "Täter" ist, muss dies ebenfalls wie ein Schlag ins Gesicht der Zuschauer gewesen sein.
Es gab in "Psycho" erstmals eine Toilette in einem Hollywoodfilm zu sehen, deren Spülung dann sogar auch noch betätigt wird. Skandalös für diese Zeit. Diese Verklemmtheit des damaligen Kinos vor Augen, lässt erahnen, welche Welle der Entrüstung, der Schockiertheit und des Anstoßes es gegeben haben muss, als Hitchcock die Geschichte eines Mannes erzählte, der durch einen extremen Mutterkomplex junge, ihn erotisierende Frauen ermordet und dabei selbst Frauenkleider trägt.

Solch eine Psychologisierung war neu im Film und brach mit dem bisherigen Kriminalfilm, wie er seit den Dreißigerjahren in Amerika produziert wurde. Mord und Motiv stehen nun in einem gänzlich anderen Zusammenhang. Weder Rache, noch Habgier oder Eifersucht stehen hinter den Taten, sondern eine malträtierte Seele die unter einem sexuellen Komplex leidet und letztlich triebhaft tötet. Allenfalls Fritz Langs "M" von 1931 hatte den Mut, dieses Feld der Kriminologie als Fundament für einen Film zu verwenden. (Natürlich erhebe ich nicht den Anspruch, alle Filme von 1931 bis 1960 zu kennen! Angaben ohne Gewähr!!!)

Ebenfalls mutig und klug war durch den Perspektivwechsel die Deckungsgleichheit von Täter und Zuschauer. Ohne Marion Crane bleibt nur noch Norman Bates als Identifikationsfigur übrig, den man bis dahin als unsicheren Mann, als Spanner und als Vertuscher eines Mordes kennengelernt hat. Die Szene, in der Bates das Auto des Opfers im Sumpf versenkt, der Wagen aber noch halb aus dem Morast schauend hängen bleibt, um dann aber letztlich doch noch zu versinken, lässt den Zuschauer plötzlich mit dem Täter mitfiebern. Die Nervösität der Figuar in Verhörsituationen lässt einen mitfühlen und den unmoralischen Wunsch entstehen, Norman Bates möge sich nicht verraten. Auch die Nebenfiguren helfen dem Zuschauer nicht aus dieser Zwickmühle, erscheinen diese doch bewusst entrückt und ungeeignet als Helden.

So erfährt man am Schluss nicht nur des Rätsels Lösung, sondern sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, die letzte Stunde mit einem kranken Psyhopathen sympathisiert zu haben. Unangenehm! Dieser Schock wird durch die medizinisch-psychologisch gestrickte Erklärung im Hau-Ruck-Verfahren am Ende kaum abgemildert. Da denkt man an Sätze wie "Er war eigentich immer ein sehr hilfsbereiter Mann." oder "Naja, der war halt ein bisschen schüchtern, aber wer denkt denn an so was." Natürlich hat es immer wieder filmische Momente gegeben, wo durch die Narration ein Mitgefühl für den bad guy entstand. Hitchcock selbst spielte immer wieder gerne mit solchen Situationen. Aber der "Schock" muss in diesem Fall immens gewesen sein.


Die Technik

Die Duschszene. Brilliant, innovativ, kreativ und exakt. Losgelöst ist der Mord unter der Dusche bereits ein absolutes Highlight. Im Gesamtkontext des Films erweist sich diese Szene jedoch als Zeugnis eines Genies, wie es kein zweites mehr geben sollte. Es geht hier nicht um Tiefgründigkeit und Oppulenz. Da gibt es wohl bessere. Es geht hier um filmtechnische Perfektion und um einen begnadeten Geschichtenerzähler, der es meisterhaft verstand, den Zuschauer zu lenken und zu manipulieren.

Das Szenenbild. Hier wird bereits deutlich, dass Hitchcock einen riesen Spaß hatte, "Psycho" zu konzepieren und zu drehen. Der Film ist letztlich eine Geisterbahn, die mit großer Kenntnis ihrer Fahrgäste geplant wurde. Das Wohnhaus der Familie Bates ist daher auch mittlerweile eine Ikone des Grauens und ebenso kitischig.

Drehen in Schwarz-Weiß. Die gefühlte Reduktion, der Minimalismus im Bild und die dadurch gewonnene Schlichtheit rücken andere Dinge in den Fokus. Die Beklemmung der Charaktere wird beinahe greifbar. Zudem wirkt die Duschszene in all dieser Schlichtheit und bildlichen Ruhe wie die Totaleskalation und sticht noch deutlicher hervor.

Die Schlussüberblendung. Erst beim sechsten oder siebten Ansehen fiel mit die Überblendung auf, mit der sich Norman Bates für immer in das kulturelle Gedächtnis meißelte. Das diabolische Grinsen am Ende des Films wird mit dem Bild der toten Mutter "vermengt" und so für den Bruchteil einer Sekunde zu einer hässlichen Fratze entstellt. Ein einfacher, aber wirkungsvoller Effekt.

Die Musik. Ebenso wie die Duschszene oder das Bates-Haus hat die Musik ebenfalls einen ikonischen Charakter. Herrmanns Komposition trägt den Film in weiten Teilen, akzentuiert mit dem Vorschlaghammer, strapaziert die Nerven und wurde immer wieder gerne kopiert. (Besonders dreist von Richard Band in "Re-Animator"!)

Die Symbolik. Ein Raum voller ausgetopfter Tiere, tote Augen, das Sehen und Bezeugen, vorausschauende Bilder an Wänden...Willkommen im Gruselkabinett. Eintritt 5 Euro. Trotz einer Brechstangensymbolik wirkt der Film jedoch nie so plump, wie es sich jetzt vielleicht anhört. Eine Kunst. Und den Filmkritikern und Nerds (für die ein solches Forum hier ja gedacht ist) wird die Butter hier reichlich aufs Brot geschmiert.



Fazit

"Psycho" ist Hitchcocks Geisterbahn des Kinos und Ausdruck seiner enormen Kenntnis des Zuschauers. Er lenkt in falsche Richtungen, zerstört Erwartungen, lässt gewissermaßen zum Mittäter werden. Er schockiert auf ganzer Linie und lässt den Kinogänger am Ende ganz allein mit einer verstörenden und grenzüberschreitenden Erfahrung zurück. "Psycho" mag vielleicht nicht Hitchcocks bester Film sein, jedoch ist er definitiv ein Meilenstein der Filmgeschichte und Zeugnis einer unglaublichen Fähigkeit zur Manipulation. Nie wieder hat ein Regisseur es verstanden, die technischen Mittel des Films so gezielt und effektiv einzusetzen wie der Meister aus England, der die Größe und den Mut hatte,  dem Kriminalfilm neue DImensionen zu verleihen. Letztlich wurde hier die Blaupause für sämtliche Psychothriller und Horrorfilme erstellt, in denen triebhafte Mörder ohne vordergründige Motive im Mittelpunkt stehen. De Palmas "Dressed to Kill", Demmes Verfilmung von "Das Schweigen der Lämmer", Carpenters "Halloween" - alle diese Genreklassiker nutzen ein Konstrukt, das mit "Psycho" ertsmals umgesetzt wurde. Abgesehen von seiner filmhistorischen Bedeutung und seinem Einfluss auf unzählige Filme, ist Hitchcocks Werk für sich genommen durch seine Machart ein durchaus interessanter Zeitvertreib.
 Der Film ist daher auf jeden Fall Pflichtprogramm für alle Interessenten an der westlichen Kinokultur und trotz seiner Angestaubtheit immer eine Empfehlung wert.

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