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Während die Kohlearbeiter in einer Kleinstadt im Norden Frankreichs für sichere Arbeitsplätze und angemessene Löhne demonstrieren, sucht Simone Joigny (Linda Gutemberg) für ihre zwei Kinder, François (Michel Terrazon) und Josette (Pierrette Deplanque) Winterkleidung aus. Sie werden vom Vater (Raoul Billerey) mit dem Auto abgeholt. Später sitzt dieser mit Sohn und Tochter in einem Café. Als François seinem Vater Zigaretten holen soll, stiehlt er unbemerkt eine der am Tresen ausgestellten Uhren.

In den ersten Sequenzen von "Nackte Kindheit" wird Maurice Pialats stilistische Eigenständigkeit schon erkennbar, die er basierend auf den zuvor jahrelang gedrehten dokumentarischen Kurzfilmen in seinem ersten Langfilm zu großer Reife entwickelte. Er erklärt nichts, beschreibt keine Zusammenhänge und verwendet einen sehr schnellen Rhythmus zwischen den einzelnen Szenen, deren zeitliche Abfolge stark differiert, ohne dass Pialat dafür äußerliche Anzeichen gibt. So wird nicht deutlich, ob der Besuch im Café unmittelbar nach dem Einkauf erfolgte, oder erst Wochen später.

Die Kamera selbst bewegt sich kaum und bildet die einzelnen schnell geschnittenen Szenen immer nur aus einer Perspektive ab, was den realen Charakter betont, der durch Pialats Wahl, nur Laiendarsteller zu verwenden, noch zusätzliche Authentizität erhält. Trotz dieser bewusst einfach gehaltenen Kamera - Perspektive, die die Abläufe dokumentieren und nicht beherrschen will, der darin beschriebenen Gesellschaftsproblematik und des sehr genauen Abbilds eines bürgerlichen Frankreich Ende der 1960er Jahre ist "Nackte Kindheit" ein Film geworden, der nicht nur über einen großen Spannungsbogen verfügt , sondern sehr deutlich Maurice Pialats eigenen Erfahrungen Ausdruck verleiht.

Pialat stammte zwar aus einem äußerlich intakten Elternhaus, litt aber stark unter Einsamkeit in seiner Kindheit. Seine ersten drei Langfilme gehen thematisch auf diese traumatischen Empfindungen zurück ("Wir werden zusammen nicht alt" 1972, über die Zerstörung einer Beziehung, "Die Qual vor dem Ende" 1974, über das Alleinsein kurz vor dem Tod), aber um so mehr überrascht der vielschichtige, emotional sehr zurückhaltende Stil. Darin ist die Beeinflussung des "Cinemá veritá" zu erkennen - der französischen Variante des italienischen "Neorealismus"- die eine möglichst authentische Darstellung voraussetzt.

Diese Grundlage hält "Nackte Kindheit" jederzeit aufrecht, aber Pialat nutzt die Geschwindigkeit und seine Art zu erzählen, um letztlich doch seinen subjektiven Empfindungen Ausdruck zu geben. Dabei geht er schonungslos vor. Ihm genügen 10 Minuten, um ein facettenreiches Bild von François zu entwerfen, das sich keiner Sichtweise anbiedert. Er zeigt das Misstrauen der Mutter, dass den Jungen nicht in seinem Zimmer allein lassen will, den freundlich bemühten Vater, den sich prügelnden 10jährigen Jungen, der den geliebten Kater seiner Schwester vom 5.Stock in einem Treppenhaus herunterschmeißt, bis man erfährt, dass er kein Kind der Familie ist, sondern nur bei dieser untergebracht wurde, weil seine eigene Mutter ihn seit seinem 3.Lebensjahr nicht mehr bei sich haben will.

Es handelt sich um ein Sozialsystem, dass nicht nur Waisen, sondern alle aus dem Elternhaus gestoßenen Kinder versuchte, bei anderen Familien unterzubringen. Pialat beschreibt die geschäftsmäßige, bürokratische Art, mit der dieses System umgesetzt wird, weshalb der für die Organisation verantwortliche Mann François sofort wieder mitnimmt, als dessen Pflegeeltern ihren Unwillen ausdrücken, ihn weiter behalten zu wollen. Erst in diesem Gespräch, in dem die Mutter erzählt, dass ihr Mann die gestohlene Uhr hätte bezahlen müssen, wird die Zeitspanne deutlich, die Pialat in wenigen Minuten beschreibt. Dieses Stilmittel behält er während des gesamten Films bei, indem er Dramen oder besondere Ereignisse andeutet, ohne deren weitere Folgen zu schildern. Nur spätere Konsequenzen lassen diese erahnen.

Dadurch vermeidet er unnötige Dramatisierungen, die die Abschiedsszene von François erst in ihrer wirklichen Tragweite deutlich werden lässt. Es gibt keinen lauten Ton, keinen Streit, nicht den kleinsten Widerwillen. Friedlich verabschiedet man sich voneinander, der Pflegevater steckt dem Jungen heimlich ein wenig Geld zu und François überreicht seiner Pflegemutter noch ein Abschiedsgeschenk. Es ist die Unfähigkeit zur Emotion, die hier wesentlich beeindruckender ist, als es jede überzogene Gefühlsregung wäre. Die ersten 15 Minuten des Films sind ein Dokument des Scheiterns, aber sie bleiben nur die Vorgeschichte.

François wird von der Organisation zu dem alten Ehepaar Thierry gebracht, bei denen nicht nur Madame Thierrys sehr alte Mutter (Marie Marc) als Pflegefall untergebracht ist, sondern auch der etwas ältere Raoul (Henri Puff), selbst ein verstoßener Junge. An dieser Konstellation wird deutlich, wie sehr Pialat jedes typische Klischee vermeidet. So wie er François zuvor schon ohne Idealisierung beschrieb, entwirft er hier eine reale bürgerliche Umgebung. Beiden Jungen wird Liebe entgegen gebracht und der ernsthafte Willen, ihnen ein gutes Zuhause zu geben. Zwischen der kranken Großmutter und François entsteht sogar ein echtes Vertrauensverhältnis.

Dabei verliert Pialat nie das Gleichgewicht zwischen Realität und Emotion, aber er variiert geschickt seinen schnellen Stil, in dem er in wenigen Momenten Ruhe einkehren lässt, um damit unmittelbar deren Bedeutung erfahrbar werden zu lassen. "Nackte Kindheit" bleibt ein Film, der seine Botschaft nicht aufdrängt, der nicht den Finger in die Wunde legt und der nicht mit Emotionen versucht, den Betrachter in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen. Damit erreicht Maurice Pialat ein größtmögliches Maß an Objektivität, das erst im Nachhinein die darin verborgene Wut und Trauer offenbart - ein filmischer Glücksfall (10/10).

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