Er mutet uns Zuschauern schon einiges zu, der Herr Haneke. Fast unerträglich lange "quält" er uns in diesem Film mit scheinbar belanglosen Alltagssituationen ganz normaler Menschen und mit scheinbar unmotivierten, unzusammenhängenden Handlungen verschiedener Hauptpersonen. Da kommt ein kleiner Flüchtlingsjunge nach Wien, woanders klaut jemand Handfeuerwaffen aus einer Kaserne, und in einem Wohnhaus in Wien sagt ein Beamter für Geldtransporte seiner Frau völlig unerwartet "ich liebe dich" ins Gesicht. Man kann beim Zusehen nur andeutungsweise erkennen: Bald passiert etwas mit den gezeigten Personen.
Das mag jetzt fürchterlich langweilig klingen, ist es aber nicht. Die ständig aufrechterhaltene Erwartungshaltung - Gleich passiert was! - erzeugt Spannung, Dramatik, ja es wird sogar richtig gesteigert, bis zum knallharten Schluss. Und man fragt sich, ob die gezeigten Szenen, die Kleinigkeiten aus dem Leben der Beteiligten eine Bedeutung haben. Auch die eingeworfenen Nachrichtenausschnitte über den Jugoslawienkrieg und andere Dinge.
Man findet nicht unbedingt eine direkte Antwort, doch beim Ansehen fühlt man geradezu eine Art Zwangsläufigkeit in der Eskalation der letzten Szenen. So bleibt nach dem Amoklauf schließlich nur noch die Unterscheidung zwischen Täter, Opfer und "innocent bystander", und hier wird es schwierig: Musste der Täter so handeln? Warum gerade er? Hätte es nicht einer von den anderen sein sollen? Hatte er es geplant? Waren auch andere durch ihr Verhalten ihm gegenüber schuld?
Viele zwischenmenschliche Konflikte und -Potentiale werden unter die Lupe genommen, wie auch das moderne Sozialverhalten. Die Bilder vom Leid der weit entfernten kriegsgeplagten Krisenherde der Welt schlagen um in die Realität, und die Parallelen werden einem schlagartig bewusst (Vielleicht soll der Flüchtlingsjunge als eine Anspielung dahingehend verstanden werden: Die Grenzen zwischen den Lebensarten verwischen, die Krisen sind näher als man denkt).
Meine Empfehlung für den anspruchsvollen Filmenthusiasten: Anschauen. Nach dem Film denkt man anders über Schicksal, Zufall, und die vielen Kleinigkeiten im täglichen Umgang nach.
Haneke beendet seine Fragmente mit einer Nachrichtensendung. Irgendwo zwischen den wichtigen bereits wiederholten Tagesnachrichten aus aller Welt, über den Bosnienkrieg und Michael Jackson, erscheint die Meldung über einen Amoklauf in Wien. Und auf Einmal ist man schockiert und bewegt, weil die namenlosen Opfer, die da in den grauen Särgen liegen, nun ein Gesicht haben...9/10