Vorab kann ich alle Spoiler-Paniker verscheuchen, denn man kann über diesen Film nichts spoilern, weil nichts aufgeklärt wird und er kein Ergebnis hat. Man bewahrt also höchstens Leute, die auf einen sinnvollen Inhalt stehen vor einer großen Enttäuschung. Wie bei so manchem künstlerischen Film (und dafür scheint sich der Film zu halten) besteht die gewisse Arroganz darin, daß die Macher meinen ihre Stilmittel und ihre verteckte, sensible Botschaft sei so stark, daß sie keine Erklärungen, logische Story oder dramaturgische Raffinesse benötigen. Leidtragender einer solchen Einstellung ist dann der Zuschauer, besonders wenn er Geld für einen solchen Film ausgegeben hat.
Ich bin ja jemand, der in der Regel immer versucht Low-Budget-Filmen und Amateurfilmen mehr als fair entgegen zu kommen, und dort freundlichere Maßstäbe ansetzt als bei großen Blockbustern. Aber auch unter dieser Prämisse muss ich scharfe Kritik an "Cannibal - Die Menschenfresserin" üben.
Zunächst einmal ist es KEIN Amateurfilm, sondern ein absolut professioneller Film, dessen komplettes Team aus Leuten besteht, die beruflich fest in der Filmbranche verankert sind. Das Budget von über 80.000 Euro ist zudem etwas, was kleinere Amateurfilmer gerne mal hätten.
Damit kommt nun unweigerlich meine eigene Kaum-Trilogie ins Spiel. Habe es in den über 6000 Kritiken, die ich bisher geschrieben habe, fast immer vermieden meine eigenen Filme werbewirksam zu erwähnen, aber diesmal geht es nicht anders, weil "Cannibal" thematisch und auch im Drama-Stil einfach zu ähnlich ist. Da drängt sich ein Vergleich zwangsläufig auf.
Meine Reihe hat nur ein Zehntel des Budgets von "Cannibal", also rund 8000 €, womit allerdings bei uns drei Filme von insgesamt 4 Stunden entstanden mit 16 verschiedenen Drehorten. Der belgische Profi-Kunst-Film spielt nur an drei Drehorten und seine Laufzeit von 103 Minuten kommt einem qualvoll länger vor als die ganzen 240 Minuten meiner Reihe. "Cannibal" hat ein Technik-Team von 43 Leuten - unser Team war lediglich 10 Leute im Technik- und Organisationsbereich. Dort hatte ich zwar ebenfalls Profis, aber aufgrund des Budgets war auch die Drehzeit extrem begrenzt bei uns, was die Leistung meiner Leute noch stärker macht, denn unter Zeitdruck zu funktionieren ist schwer.
Auch wenn musikalisch eine gewisse Verwandschaft zwischen unserem und dem belgischen Film besteht, so ist die Musik bei "Cannibal" doch ingesamt schwach. Keine Ohrwürmer, keine aufwühlenden Songs, keine klangvolle Musik. Wir haben bei der Kaum-Reihe stattdessen sehr intensive Musik an der Grenze zur Überfrachtung, wobei wir die Grenze des musikalischen Overloads so weit auskosten wie der grandiose "The Woman", der auch von extrem intensiver und teilweise anachronistisch-überzogener Musik lebt, wodurch er zu einem Kunstgenuß wird. Dabei sei aber gesagt, daß "The Woman" mindestens eine ganze Klasse besser ist als unsere Filme...und vier Klassen besser als "Cannibal".
Da sind auch Szenen in dem belgischen Film, welche vergleichbar sind mit unseren Szenen, was nicht auf abkupfern beruht, denn ich habe "Cannibal" zum ersten Mal im Sommer 2022 gesehen, also Jahre nach dem Dreh unserer Reihe. Ein junger Mann findet eine verstörte junge Frau im Wald. Waschen, ins Schlafzimmer bringen, statt sie im Wohnzimmer schlafen zu lassen (wie sie es versuchte), essen, ein Geheimnis ihrer Vergangenheit, das es zu ergründen gibt...das sind alles Gemeinsamkeiten. Aber da haben wir auch schon die erste Schwachstelle von Cannibal: Der junge Mann Max hat psychische Probleme, was eigentlich interessant sein könnte und auch ein Aufhänger des ganzen Liebesdramas ist, aber angesichts der Tatsache, daß diese komplizierte Beziehung zwischen einer verwilderten Kannibalin und einem Neuortiker das A und O des Films ist, grenzt es an eine Unverschämtheit, daß nichts erklärt wird und auch dem Krankheitsbild widersprechende Dinge einfach sinnlos passieren. Er soll wohl Reinlichkeitszwang, eventuell Depressionen und Agoraphobie haben. Letzteres ist die panische Unfähigkeit das Haus zu verlassen, aber eben dies tut er ständig. Er findet ja das Mädchen nur deswegen, weil er durch den Wald spaziert. Dann geht er oft zu seinem Kumpel, einem Jäger weit in den Wald. Später fährt er sie zu ihren Freß-Dates in die Nähe von Menschen und am Ende sucht er sie in der großen Stadt. Wo bitteschön hat dieser Mann denn Agoraphobie? Der ist ja mehr draußen als der durchschnittliche Computerfreak. Wie lächerlich wirkt da eine Szene in der Mitte des Films, wo sie ihn mühsam überreden muss das Haus zu verlassen und der erste Schritt mit Handreichung wie ein kleines Wunder dargestellt wird. Hat sich Regisseur Benjamin Vire mal sein eigenes Drehbuch durchgelesen? Sein Hauptdarsteller spaziert ständig außerhalb des Hauses in der Gegend herum und soll aber einer sein, der wegen psychischer Angstzustände nicht rausgehen kann?
Die weitere Unlogik ergibt sich im Hauptgeschehen. Als Max merkt, daß seine neue Freundin Menschen totbeißt, und er sie wieder mit nach Hause nimmt, will sie ihm erklären, was der Grund dafür ist. Aber was macht dieser Idiot? Er blockt ab und will keine Erklärung hören. Den kompletten Film über stellt er ihr keine Fragen oder zumindest keine einzige nach ihrer Herkunft, Verfassung oder irgendwelchen Gründen. Allein dies sorgt schon dafür, daß der Zuschauer, der von einer natürlichen Neugier getrieben wird, sich überhaupt nicht mit Max identifizieren kann, weil dieser Hornochse scheinab gar nicht wissen will, was los. So fährt er dann etwas später seine Cannibalin zu bewohnten Gebieten, damit diese dort wahllos wieder Männer beim Geschlchtesakt tötet. Unfassbar: Er macht dies einfach so, ohne eine Sekunde zu fragen, was der Grund für das Tötungsverlangen ist oder ob es Möglichkeiten gäbe diese kriminellen und menschenverachtenden Taten zu verhindern. Nö, gar nicht fragen, Freundin hat Hunger, also fang dir mal den nächsten Kerl und friß ihn. Auch das angeblich kannibalische Fressen ist kein dramaturgisches Highlight, obwohl dies noch die spannendsten Stellen sind. Aber es wird bezüglich Effekten und Härte sehr wenig gezeigt, extrem wenig sogar, und schon wieder kommt Sinnlosigkeit ins Spiel: Wenn die Opfer zum Fressen braucht, wieso entsorgt Max diese dann nach wenigen Bissen? Wäre es nicht logisch, wenn seine Freundin sich da erstmal zwei Tage lang dran stattfrißt?
Während Max und die Cannibalin recht gut spielen und noch was Menschliches haben, kommen die wirklichen Unsympathen ins Spiel in Form des organisierten Verbrechens, welches 3 Killer aussendet, um die Frau zurückzuholen. Auch dort haben wir rasch Unlogik. Der jüngste der Killer ist der Cousin des Bosses. Ohne jeden Grund bricht ein besonders fieser Schläger in dem Trio dem Junior-Gangster die Nase. Tage später erschießt der den jungen Türken noch wiederum ohne die allerkleinste Spur eine Erklärung oder auch nur halbwegs nachvollziehbaren Begründung. Nachdem diese drei Unsympathen tagelang das Haus von Max beschattet haben, holen sie endlich die Frau raus. Nun war so eine lange Wartezeit völlig unnötig, weil das Haus einsam im Wald liegt uns nichts dagegengesprochen hätte, einfach reizugehen, Max umzulegen und die Cannibalin rauszuholen. Stattdessen ballern sie vorher den Jäger um, was unlogischer Weise weder Max noch die Frau hören, trotz Nähe und mehrerer Schüsse. Unerklärlicherweise lassen sie Max am Leben, sodaß dieser später die Verfolgung aufnehmen kann, welche ihn zu Cage-Fights führt, die wohl die Erklärung für das Interesse der Gangster an der Frau als Arena-Monster sein sollen. Aber auch dort gibt es keinerlei verbale Erklärung. Stattdessen philosophiert der brutalste und primitvste Gangster sinnfrei in der Gegend herum über "Welt verbessern". Am Ende gibt es noch nicht mal ein Ergebnis. Als die Kannibalin im Käfig auf Max losgelassen wird, wird abgeblendet. Der Film ist zu ende. Hat die ihn nun totgebissen oder siegte ihre sichtbare Hemmung ihm etwas zu tun? Auch die absolut widerlichen Killer werden nicht geötet. Also noch nicht einmal ein Moment der Genugtuung. Was wird aus Max und ihr? Das können wir nur raten...
Die beiden größten Schwachpunkte von "Cannibal - Die Menschenfresserin" sind Technik und Dialoge.
Es wird fast nichts gesprochen. Oft sitzen Personen schweigend nebeneinander. Die wenigen Sätze sind nur Fragmente, oft sinnlose Halbsätze, die so wenig wie möglich zur Aufklärung beitragen. Ein Drama, ein psychologisch aufgebauter Horror, der schlechte Dialoge hat, ist ja so verkehrt wie eine Heizug in der Wüste.
Die Optik ist eine Unverschämtheit. Die Kamera wackelt, schwankt, vermittelt nervige Unsichheit. Dabei unterstelle ich keine amateurhaften Fehler, sondern diese "Stilmittel" wurden absichtlich gewählt. Man will ja künstlicherisch sein. Deswegen auch die weitgehend rausgefilterten Farben. Der ganze Film ist nahe am schwarz/weiß. Es scheinen als Farben nur grau, weiß, beige, schwarz und mattes Gelb zu existieren. Am Ende wird er sogar komplett schwarz/weiß. Die Beleuchtung ist unzureichend. Weder innen noch außen ist auch nur eine einzige Szene vernünftig ausgeleuchtet. Dadurch sehr undeutlich. Eine Unübersichtlichkeit kommt hinzu, weil die meise Kamera zu nahe an den Personen ist. Sehr oft sind groß die Schulter und der Hinterkopf einer Person nur Zentimerter von der Kamera entfernt im Vordergrund. Dahinter sieht man dann teilweise die andere Person von vorne.
Teilpunkte für Kamera + Beleuchtung: 2
Teilpunkte für Dialoge: 3
Teilpunkte für Darsteller: 7
Teilpunkte für Effekte: 2
Teilpunkte für Inhalt: 4
Teilpunkte für Spannung: 3
Diese rudimentäre Spannung besteht darin, daß man wissen will, wie es sich weiterentwickelt. Die geheiminsvolle Sache möchte man erfahren, welche dahintersteckt. Allerdings schleppt sich der Film so langatmig und schwach dahin, daß dieses Geduldspiel eine Schlaftablette für den Zuschauer ist.
Gesamtpuntke: 3
Damit hab ich schon eine sehr gnädige Note gegeben, auch wenn der Film so viel falsch macht, daß man eine richtige Wut im Bauch auf den Regisseur hat, der zum Glück außer diesem Film nur noch einen weiteren verbrochen hat. Kurze Karriere...
Wenn ich bedenke, wie wir uns angestrengt haben, damit wir bei unserer Kaum-Trilogie extrem deutliche, unverwackelte Bilder in frischen, satten Farben und mit guter Tiefenschärfe präsentieren konnten...und wie wir handfest-blutige Effekte bezahlt haben, dazu tolle Musik ergattert, sowie darauf geachtet jede Handlung der Personen genau zu begründen und zu erklären, und welches Herzblut ich in die Dialoge und die Charakterzeichungen der 9 langen Hauptrollen und 17 großen Nebenrollen gesteckt habe, dann muss ich einfach, auch wenn die Gesellschaft geradezu hysterisch allergisch ist gegen Eigenlob, trotzdem sagen: Gegen unsere Kaum-mehr-als-Tiere-Trilogie ist "Cannibal" armseelig...und das obwohl unsere Filme KEINE Meisterwerke sind, sondern nur sehr kleine Amateurfilme mit minimalstem Budget und großer Liebe zum Film.