Filme des Abschweifens erlangten ihren Siegeszug sicherlich in den späten 60er und frühen 70er Jahren, als viele Filmemacher betonten, dass ihre Geschichten nur fiktiv, ihre Figuren zugleich auch spielende Schauspieler sind, dass die Filme letztlich bloß sind, was sie sind: konstruiert & inszeniert. In dieser Zeit tendierten zahlreiche Regisseure dazu, den Film ganz explizit und mehr oder weniger intensiv als künstlich auszuweisen: etwa Bergman ("Persona" (1966), "En Passion" (1969)), Godard ("Le mépris" (1963), "La chinoise" (1967), "2 ou 3 choses que je sais d'elle" (1967), "Week End" (1968)), Jodorowsky ("El Subida al Monte Carmelo" (1973)), Kluge ("Die Artisten in der Zirkuskuppel" (1968)), Portabella ("Vampir Cuadecuc" (1971)) oder Reitz ("Cardillac" (1968))... Selbst im kommerziellen Mainstream waren Spuren dieser Haltung auffindbar, etwa in George Lazenbys Verweis auf seinen Vorgänger-Bond Connery in "On Her Majesty's Secret Service" (1969).
Doch nicht nur in solch selbstreflexiven Ansätzen erblickte man Möglichkeiten, den Konventionen des Films zu entkommen: auch in der Tendenz, zugunsten des Fragmentarischen und Episodenhaften und ganz besonders des Zusammenhangslosen die abgeschlossene Geschichte mit durchgängiger, in sich geschlossener Dramaturgie aufzugeben, sah man eine Lösung. Es entstanden quasi Filme des Abschweifens: In Bunuels "Le Fantôme de la liberté" (1974) etwa gerät das Abschweifen zur durchgängigen Struktur des Films. Godard grübelt sich in "2 ou 3 choses que je sais d'elle" ganz assoziativ - entlang des Alltags seiner Hauptfigur - von Thema zu Thema ohne dabei eine wirkliche Dramaturgie zu entwickeln. Solcherlei assoziative Gedankensprünge bringt auch Godard-Liebhaber Alexander Kluge in seine Filme ein und auch Chris Markers Essayfilme folgen mehr und mehr einem Gedächtnis, das sich durch Sprunghaftigkeit & Unwillkürlichkeit auszeichnet und das räumlich und zeitlich Getrenntes miteinander verknüpft. Dort, wo es nicht ein Erinnerungen ordnendes Gedächtnis ist, welches die Reihenfolge und Art der Filmbilder vorzugeben scheint, ist es das Nebeneinander des Unterschiedlichen in der Realität selbst, welches vermeintlich die Struktur des Films bestimmt (so oder so - letztlich liegt der wahre Grund natürlich im Konzept der Filmemacher): im episodischen Spielfilm, der mit Altmans "Nashville" (1975) einen ersten Höhepunkt erreicht und ab den 90er Jahren unter der Regie von Tarantino, Altman, Solondz, den Coens, P. Th. Anderson, Soderbergh, Iñárritu Paul Haggis und anderen breitenwirksam aufblüht, zeigen sich etwa die Zusammenhänge zwischen Unbekannten in aller Deutlichkeit.
Es ist dann ein deutscher Filmemacher, von dem man es wohl am wenigsten erwartet hätte, der solche Abschweifungen von einem begonnenen Handlungsstrang thematisiert und in aller Deutlichkeit auf den Punkt bringt: Tom Tykwer. In Kluges mehrstündiger Marx/Eisenstein-Komposition "Nachrichten aus der ideologischen Antike" (2008) stammt eine etwa 10minütige Sequenz von Tykwer. Dieser zeigt eine junge Frau, die schnell ein Ziel erreichen will, hält das Bild an & die Kamera zugleich in Bewegung und fährt dann - vorbei an der eingefrorenen Frau in Eile - an die gewöhnlichen Bestandteile einer Straßenansicht heran, deren Hintergründe er penibel auflistet: wer sorgt für ihr Vorhandensein, wer oder was hängt mit ihnen zusammen. Tykwer veranschaulicht komplexe Zusammenhänge, an denen man täglich vorübergeht ohne sie überhaupt wahrzunehmen; er schweift von der Geschichte der jungen Frau ab, um so alltägliche wie unauffällige Verstrickungen aufzuzeigen, die überall um sie herum gegeben sind. Das ist im Grunde die Formel für alle Abschweifungen, die sich ab den 60er Jahren allmählich in die Filmwelt gedrängt haben: die Realität ist viel zu komplex, als dass man sich ihrer in einer linearen Geschichte auch nur annähernd adäquat nähern könnte.
Im Nachhinein musste Tykwer geradezu prädestiniert für solch eine beigesteuerte Episode erscheinen: schon in seinem Erfolg "Lola rennt" (1998) sieht man, wenn Franka Potente als rothaarige Lola an Passanten vorbeihetzt, deren weiteres Schicksal in rasanter Schnappschuss-Montage vorüberziehen - die Geschichte verlagert sich kurzzeitig von der Hauptfigur auf Statistenrollen, denn schließlich: warum sollte deren Geschichte uninteressanter sein?
An diese Schnappschuss-Folge in "Lola rennt" erinnert "Einstellung Amateur", der mit seinem Zwischentitel-Einsatz die Linie über Kluge bis zu Godard zurückwandert, der - wie Tykwers Erläuterung des Abschweifens im Kluge-Film - die Vielfältigkeit im Einfachen einfängt. Björn Last, einst als geistiger Vater der inzwischen mehr oder weniger aus den Weiten des www entschwundenen Seite mitternachtskino.de (zu ihrer Zeit neben dt. Ausgaben von Amos Vogel und Rosenbaum & Hoberman eine der - hierzulande - reichhaltigsten & hilfreichsten Orientierungshilfen auf dem Gebiet des etwas anderen Films) in Erscheinung getreten, zudem als Der Mann mit dem Plan eine Art Urgestein von OFDb und Schnittberichte, dreht nun seit einigen Jahren selber Filme, die seine cineastischen Vorlieben spiegeln.
"Einstellung Amateur" ist - wie so mancher Godard, Kluge oder Marker - ein Found Footage Film, der in seinen ein-zwei Minuten einzig und allein die 26-27 Sekunden des Zapruder-Films verarbeitet. Das so ziemlich jedem bekannte Material erfährt hier jedoch eine gehörige Verfremdung samt deutlicher Schwerpunktverschiebung: Nur ein kleiner Bildausschnitt des Zapruder-Materials wird präsentiert (zu Beginn noch aus der linken Bildhälfte des Materials, dann jedoch mehr und mehr aus der rechten Hälfte), zudem um 90° gekippt. Und was man zu sehen bekommt, ist gerade nicht der Mord an Kennedy, sondern die im Bild verewigten Zeugen stehen im Zentrum des Kamerablicks. Geraten sie in den Bildmittelpunkt, friert das Bild inmitten seiner Bewegung ein - und über die Standbilder legen sich transparente Zwischentitel. Der erste kommentiert die erste Zeugen-Dreiergruppe: "Charles Brehm und sein fünf Jahre alter Sohn Joe. Brehm hat an der Landung der Alliierten in der Normandie teilgenommen. In circa anderthalb Sekunden werden er und sein Sohn sich auf den Boden werfen. Die Dame hinter beiden ist bis heute nicht identifiziert." Die zweite Zeugin gerät für sich allein ins Bild: "Jean Hill ruft gerade 'Look'. Sie stirbt am 7. November 2000 an einer Blutkrankheit." Ohne eine Relevanz für das Attentat selbst ersichtlich werden zu lassen, werden willkürlich Umstände aus Brehms Vergangenheit und aus Hills damaliger Zukunft genannt. Wenn Mary Ann Moorman ins Bild gerät, beschränken sich die Zwischentitel auf ein "Mary Ann Moorman betätigt den Auslöser ihrer Polaroidkamera" - darauf folgt dann Moormanns Attentat-Photographie, ehe das restliche Zapruder-Material abläuft (Kennedy ist nach wie vor nicht zu sehen, einzig auf dem Foto taucht er auf).
Doch "Einstellung Amateur" enthält mehr als einen humoristischen Anstrich, der in der Betonung des Nebensächlichen angesichts des gewichtigen Kennedy-Attentates liegt. (Für die Aufklärungsversuche sind solche nachweisbar vorhandenen Augen- und Ohrenzeugen freilich keine Nebensächlichkeit; mit solchen Versuchen hat der Film allerdings nichts gemeinsam.) Last schmeißt alles aus dem Film, was Pasolini in "Osservazioni sul piano-sequenza" (1967) anhand der Zapruder-Aufnahme als Bestandteil der langen Einstellung auffasste. Zwei Punkte lagen Pasolini damals besonders am Herzen: Zum einen die Feststellung, dass die (lange) Einstellung zwangsläufig eine subjektive Sichtweise abbildet, während die montierte Sequenz - aus mehreren Subjektiven bestehend - via Intersubjektivität sowas wie Objektivität für sich in Anspruch nehmen kann. Zum anderen die Feststellung, dass die (lange) Einstellung den Anschein der Gegenwärtigkeit des Geschehens wahre; der Schnitt, so Pasolini, sei für die Einstellung das, was der Tod für das Leben darstelle: nämlich jener Punkt, an dem das von ihm Betroffene abgeschlossen sei und dadurch endgültig beurteilt werden könne. Wenn er einer Einstellung lange Zeit abgehe, dann fehle entsprechend lange der Eindruck des Abgeschlossenen, des Vergangenen: der Eindruck des Gegenwärtigen tritt in der Vordergrund. In seinem kurzen (und sicherlich auch angreifbaren) Artikel spielt Pasolini diese Punkte anhand von Zapruders Aufnahme durch: er weise die einzig zugängliche Perspektive des Geschens auf, in der "all the other points of view are missing: that of Kennedy and Jacqueline, that of the assassin himself and his accomplices, that of those with a better vantage point, and that of the police escorts, etc."[1], zudem wirke er durchweg gegenwärtig und entbehre damit (bis zum Ende) einen Punkt, an dem man einen Hebel ansetzen könnte (schließlich habe ohne Abschluss das Gezeigte noch keine feste Form, es sei bloß "in potentia, and [...] modifiable by eventual future actions."[2]).
Last nimmt nun dieselbe Einstellung, reduziert jedoch den Bildausschnitt und montiert ein Standbild in das Geschehen hinein. Der Zapruder-Film gerät bei ihm nahezu zum Gegensatz dessen, was er damals für Pasolini darstellte. Abgesehen von den zwei echten Schnitten, zwischen denen die Moorman-Photographie Platz findet, inszeniert Last Schnitte, die keine sind, aber deren Funktion teilweise in sich enthalten: Last friert die Bewegung ein und macht aus den Filmbildern solche, die im Grunde Standbilder sind. Zwar geht es vor und nach den Standbildern nahtlos weiter, es gibt keine zeitlichen und räumlichen Sprünge: allerdings sind die Standbilder zeitliche und räumliche Aussetzer. Was Pasolini dem Schnitt zusprach, kommt mehr oder weniger auch den ausbremsenden Standbildern zu. Bei Pasolini wirkt der Schnitt angesichts der quasi lebendigen Bilder wie ein tödlicher Abbruch... die Photographie - auch so ein Grundmotiv bei Godard, Kluge oder Marker - ihrerseits wirkt bei Roland Barthes wie ein Bild des Todes, ein Bild des Vergangenem, angesichts dessen man "eine vollendete Zukunft, deren Einsatz der Tod ist [gewahre]"[3].
Diese Standbild-Beharrungen im Fluss des Films lassen die jeweils vorangegangenen bewegten Bilder zu einem vorübergehenden Abschluss kommen. Dadurch, dass Last den fahrenden Wagen vor allem ausserhalb des Bildausschnitts ansiedelt, lenkt er die Aufmerksamkeit vom ursprünglichen zentralen Motiv auf die drei Zeugengruppen, deren bloßes Vorhandensein nun in zentralen Großaufnahmen zu drei Ereignissen gerät, die aufgrund der Standbilder vergangen und abgeschlossen wirken. Die Zwischentitel leisten dabei die nunmehr vornehmbare Kommentierung und ermöglichen sie dem Zuschauer zugleich. Mit der Moorman-Photographie kommt zugleich eine jener neuen Perspektiven in den Zapruder-Film, die Pasolini seinerzeit ansprach: Nach der Präsentation der drei Zeugen sehen wir - s/w und bewegungslos - ihr Bezeugtes. Es ist beinahe ein Schuss-Gegenschuss-Verhältnis, das sich dem Publikum bietet: in Lasts Version des Zapruder-Films kommunizieren Teile von ihm miteinander.
Auch wenn man Lasts Zapruder-Version nicht vor dem Hintergrund von Pasolinis Zapruder-Lektüre ansiedeln mag, bleibt der Kurzfilm dennoch interessant und vergnüglich: allein der kauzige 'Witz', nicht den Präsidenten während seiner Ermordung zu zeigen (also das Geschehen, welches die Zapruder-Aufnahme erst interessant gemacht hatte), sondern das Publikum dieser Ermordung, füllt die kurze Laufzeit wunderbar aus. Zusätzlich kommt man kaum umhin, sich irgendwie mit der Medialität dieses Films zu beschäftigen... Nicht nur geht es in dieser Zapruder-Version um Zeugen, also um Zuschauer und Publikum, sondern auch um den medialen Charakter der Bilder: Ob bewegtes Bild oder Standbild, die Bilder werden immer als medial vermittelt codiert. (Auch das hat "Einstellung Amateur" mit einigen Godards und Kluges, vor allem aber mit Marker gemeinsam; Markers Bilder nämlich "wollen eben sein, was sie sind, nämlich Bilder..."[4])
7,5/10
1.) P. P. Pasolini: Observations on the long-take. In: David Campany (Hg.): The Cinematic: Documents of Contemporary Art. MIT 2007. S. 84.
2.) A. a. O. S. 86.
3.) Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Suhrkamp 2008. S. 106.
4.) Vgl.: Natalie Binczek, Martin Rass (Hg.): sie wollen eben sein, was sie sind, nämlich Bilder... Anschlüsse an Chris Marker. Königshausen & Neumann 1999. Sowie: Barbara Filser: Chris Marker und die Ungewissheit der Bilder. Wilhelm Fink 2010.